Die Schuld einer Mutter
Blick zu.
»Du brauchst sie gar nicht in Schutz zu nehmen, Joe. Sie hätte viel früher etwas sagen müssen!«
»Was würde es ändern?«, fragt er.
»Nun ja, zum einen wären nicht drei Suchtrupps da draußen unterwegs. Und du «, sage ich und zeige mit dem Finger auf ihn, »würdest nicht deine Zeit damit vergeuden, im Gebüsch und in den Wäldern bei minus Gott weiß wie viel Grad herumzukriechen, wenn Lucinda sich ganz offensichtlich woanders aufhält.« Ich schließe die Augen. »Mist«, sage ich. »Mist.«
Sally weint jetzt ganz jämmerlich, und ich weiß, dass ich mich beruhigen sollte. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass sie so dumm sein konnte, die Wahrheit für sich zu behalten.
Ich werfe ihr einen strengen Blick zu. »Gib mir das Telefon. Ich rufe Kate an.«
Joe stellt den Eimer hin. »Warte mal«, sagt er.
»Warum? Sie muss es erfahren.«
»Zuerst musst du die Polizei benachrichtigen. Ruf diese Ermittlerin an, und rede zuerst mit ihr. Danach kannst du Kate anrufen.«
Ich wähle die Nummer von DC Aspinall, erreiche aber nur den Anrufbeantworter. »Hier spricht Lisa Kallisto. Bitte rufen Sie mich an, sobald Sie das hören.«
Ich hole tief Luft und drehe mich zu Sally um. Sie kann mir nicht in die Augen sehen. »Warum hast du uns nichts gesagt, Sally?«
Ihre Schultern heben und senken sich dramatisch. »Weil die Dinge manchmal nicht so sind, wie sie aussehen«, schluchzt sie. »Du denkst, alle sind so wie wir, alle sind so wie ich – aber das stimmt nicht!«
»Ich weiß nicht, was das heißen soll. Erklär es mir bitte.«
Sie wirft einen Blick zu Joe hinüber und beißt sich auf die Unterlippe.
»Möchtest du es mir erklären, ohne dass Dad dabei ist?«
Sie nickt.
Ich werfe Joe einen schnellen Blick zu, und er zuckt mit den Achseln. Er hat ohnehin keine Wahl.
Er geht hinaus, und ich sage: »Okay, schieß los. Du kannst mir alles sagen, ich werde mich nicht aufregen. Es tut mir leid, dass ich wütend geworden bin. Ich war einfach nur frustriert. Außerdem habe ich große Angst, Sally. Nur deswegen habe ich die Nerven verloren.«
»Du glaubst, nur weil ich keinen Freund habe und keine meiner Freundinnen einen Freund hat, sind alle in der Schule vollkommen unschuldig. Aber das sind sie nicht. Glaub mir, Mum.«
»Schätzchen, das weiß ich doch. Zwischen der einen Dreizehnjährigen und der anderen liegen ganze Welten. Als ich noch zur Schule gegangen bin, war das nicht anders. Einige hatten sogar schon Sex, auch wenn das die Ausnahme war.«
Bei dem Wort »Sex« zuckt sie zusammen. In den letzten Jahren haben wir immer wieder versucht, ein anderes Wort dafür zu finden, aber weil alles andere lächerlich klingt, sind wir bei dem Ausdruck geblieben.
Sally putzt sich die Nase. »Da lastet ein ganz schöner Druck auf uns«, sagt sie. »Die Jungs lachen uns aus, wenn wir noch gar nichts gemacht haben. Sie sagen, wir wären …« Sie bricht ab. Dann sagt sie: »Es ist nicht leicht, Mum. Manchmal ist es wirklich schlimm. Sie sind unerträglich.«
Die Hölle der Pubertät. Niemand kann erahnen, was für eine Qual das ist, schon gar nicht die eigene Mutter.
»Die Jungen lassen uns einfach nicht in Ruhe. Sie nennen Lucinda eingebildet und verklemmt, und sie kann es kaum ertragen.«
Ich verstehe, warum die Jungen sich auf Lucinda eingeschossen haben. Manchmal kommt sie wirklich ein wenig steif und abgehoben rüber. Selbst ihre Sprechweise unterscheidet sich von der anderer Kinder. Das liegt zum Teil daran, dass Kate sie in eine private Grundschule gehen ließ, und zum Teil an Guy. Er stammt nicht von hier, er kommt aus dem Süden, und Lucinda und Fergus ziehen so wie er die Vokale in die Länge. Kate hat das immer unterstützt.
Ich erkläre Sally, dass die Jungen, diese hartnäckigen, aufdringlichen, nervigen Jungen – prollig nennt sie sie – sie in spätestens einem Jahr umwerben werden. Sie wollen einfach nur ihre Aufmerksamkeit. Aber Sally wischt das Argument beiseite und sieht mich an, als wollte sie sagen: Bist du verrückt geworden? Also lassen wir das Thema.
Ich nehme das Telefon und rufe Kate an.
Ich tippe die Nummer ein. Sally steht verloren neben mir. »Sag ihr, dass es mir leidtut«, flüstert sie, und ich nicke. »Natürlich mache ich das«, sage ich.
Es klingelt und klingelt.
Ich rufe nach Joe. »Wie kann es sein, dass bei Kate keiner ans Telefon geht?« Er kommt aus dem Wohnzimmer und bringt den Geruch von Kaminanzünder und Qualm mit in die Küche.
»Lass es
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