Die Schuld einer Mutter
einmal gesehen.« Ich verdrehe die Augen über meine eigene Unfähigkeit, ich möchte ihn zum Lachen bringen, aber er verzieht keine Miene. Er wirft mir einen seltsamen Blick zu und lässt mich nicht aus den Augen. Und dann, als ob er sich plötzlich erinnert, wie es gemacht wird, lächelt er mich freundlich an.
»Folgen Sie mir«, sage ich, und dann laufen wir an den Zwingern vorbei und bleiben vor Bluey stehen.
Der Hund wartet an der gewohnten Stelle. Unmöglich, ein noch traurigeres Terriergesicht zu finden. »Das ist er. Das ist Bluey.«
Charles Lafferty kniet nieder. Er trägt eine neue, teure Nadelstreifenhose und Slipper aus weichem Kalbsleder. Er wirkt sehr deplatziert vor den hässlichen Wandkacheln. In der Luft hängt der beißende Gestank von Desinfektionsmitteln.
»Wie traurig er aussieht«, sagt er.
»Er braucht ein neues Herrchen.«
»Ist er denn gesund?«, fragt er. »Er hat doch nicht etwa Depressionen oder so etwas?«
»Nein, er ist einfach nur einsam. Er sehnt sich wirklich sehr nach menschlicher Gesellschaft. Soll ich den Zwinger einmal öffnen, damit Sie ihn sich aus der Nähe ansehen können? Normalerweise taut er auf, sobald man sich ein wenig um ihn kümmert.«
Charles steht auf. »Ja, bitte, machen Sie das. Ich möchte sehen, wie er ist.«
Die Gittertür scharrt laut quietschend über den Boden, und mit einem Mal erwacht Bluey zum Leben. Er sieht mich an und dann Charles, und ich schwöre: Wenn Hunde lächeln können, dann lächelt er.
»Sehen Sie sich das an!«, sagt Charles aufgeregt. »Er wirkt beinahe glücklich, finden Sie nicht?«
Ich beuge mich herunter, um Bluey kräftig an der Brust zu kraulen, dort, wo er es am liebsten mag, und sofort lässt er genießerisch die Augenlider hängen und entspannt sich unter der Massage.
»Darf ich mal?«, fragt Charles.
»Bitte sehr. Aber kommen Sie seiner Rute nicht zu nah, das mag er gar nicht.«
»Er ist doch stubenrein, oder?«
»Äh, ja«, sage ich sofort und denke: Ehrlich gesagt weiß ich das nicht.
Es ist immer schwer abzuschätzen, ob ein Hund vollkommen stubenrein ist oder nicht, denn bei uns sind alle Tiere gezwungen, ihr Geschäft im Zwinger zu verrichten. Wir haben nicht genug Personal, um alle Hunde viermal am Tag auszuführen. Im Zweifel (und an Tagen wie heute) ist es für mich das Einfachste zu lügen. Denn Bluey braucht Hilfe – und jede Chance, die er bekommen kann.
Ich trete einen Schritt zurück und lasse die beiden allein, damit sie sich kennenlernen können. Charles krault Bluey hinter den Ohren, woraufhin Blueys rechter Hinterlauf in einer Kreisbewegung rotiert, gegen die er nichts ausrichten kann. Der Anblick ist einfach zu rührend. Ich muss eine Träne wegblinzeln.
Ich bin mir ganz sicher, dass der Mann ihn mitnehmen wird. Es kommt nur selten vor, dass sich ein Besucher so für einen Hund interessiert und hinterher sagt, er werde darüber nachdenken. Bitte, bete ich im Stillen, bitte, nehmen Sie ihn mit.
Charles erhebt sich mit glänzenden Augen. »Ich hätte ihn gern«, sagt er entschlossen. »Könnte ich ihn sofort mitnehmen?«
»Leider nicht«, antworte ich. »Vorher sind noch ein paar Formalitäten zu erledigen. Ich brauche die Kopie Ihrer Meldebescheinigung – Sie wissen schon, damit wir wissen, dass Sie tatsächlich ein Haus haben und nicht im Auto schlafen oder so … und dann muss ich Ihnen einen Hausbesuch abstatten, nur um zu bestätigen, dass das Umfeld für einen Hund geeignet ist.«
»Oh ja, natürlich«, sagt er. »Das verstehe ich. Man kann die Tiere ja nicht irgendwem mitgeben, nicht wahr?«
»Nein. Haben Sie zufällig einen Ausweis dabei? Dann könnten wir die Formalitäten jetzt schon erledigen. Damit wäre die erste Hürde genommen, und ich könnte morgen bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das passt.«
»Verflixt«, sagt er. »Nein, leider nicht, ich habe nichts dabei. Wie schade. Wie wäre es, wenn ich morgen früh wiederkomme und Ihnen alles vorlege? Und nachmittags erledigen Sie dann den Hausbesuch. Wie wäre das?«
Ich atme lächelnd auf. »Das wäre ganz wunderbar. Sie wissen ja nicht, wie erleichtert ich bin, dass Sie ihm eine Chance geben. Wir haben uns große Sorgen um ihn gemacht. Wir mögen ihn alle sehr.«
Er bückt sich, um die Locken auf Blueys Kopf zu tätscheln. Dann richtet er sich wieder auf und sagt: »Du bist mein bester Kumpel, nicht wahr, Bluey?«
»Leben Sie allein? Ich frage das nur, weil ich glaube, dass Bluey zu alt ist, um von kleinen Kindern
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