Die Schuld einer Mutter
Wohnadresse, Arbeitgeber und so weiter und so fort. Kommen sie der Aufforderung nicht nach, haben sie mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren zu rechnen. Was ein überzeugendes Argument darstellen sollte.
Aber funktioniert es tatsächlich?
Informieren Sexualstraftäter die Polizei wirklich über alles, was sie tun?
Joanne bezweifelt das.
Ron soll überprüfen, welche der betreffenden Personen im Laufe der vergangenen sechs Monate nach Cumbria gezogen sind. Aber offenbar lässt er sich immer wieder von ihren Straftaten ablenken. Guy Riverty ist in dem Register nicht verzeichnet, was niemanden überrascht. Dennoch hat McAleese Ron aufgetragen, die Liste abzuarbeiten.
Joanne schiebt ihren Schreibtischstuhl zurück, steht auf und sagt: »Ich hole mir einen Kaffee, Ron. Möchtest du auch einen?«
»Ja, gern. Hast du zufällig Rennies dabei? Mein Magen spielt verrückt.«
»Das liegt an dem fettigen Zeug, das du zum Frühstück isst. Sag deiner Frau, sie soll dir lieber einen Porridge kochen.«
Ron wirft ihr einen schiefen Blick zu. Er ist nicht der Haferbrei-Typ. »Es ging mir prima, bis ich mich mit diesen kranken Schweinen befassen musste.«
»Das stimmt natürlich. Mal sehen, ob ich was für dich finde.«
Als Joanne das Büro verlässt, murmelt Ron: »Als würde man eine Nadel im Heuhaufen aus lauter Gary Glitters suchen, so ist das …«
Joanne geht durch den Flur, vorbei am Büro von DI Pete McAleese, der gerade am Telefon jemanden zur Schnecke macht. Sie summt ein bisschen zu laut vor sich hin, »Rock n’ Roll Part Two« von Gary Glitter – eigentlich ist das geschmacklos, immerhin bearbeitet sie gerade einen Fall von Kindesmissbrauch.
Gary sollte sich was schämen, denkt Joanne. Sie mochte seine Musik immer gern.
Am Automaten drückt sie zweimal den Knopf für Milchkaffee und denkt dabei über Guy Riverty nach. Sie wird das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas verschwiegen hat. Sie hat sich im Internet angesehen, welche seiner Ferienhäuser gerade belegt sind. Nicht gerade viele. Die meisten stehen zurzeit leer, die nächsten Feriengäste werden erst zu Weihnachten erwartet.
Hübsche Immobilien hat er im Angebot. Alle im oberen Preissegment. Vorbei sind die Zeiten der günstigen, fröhlichen B&Bs, wo man für fünfzehn Pfund die Nacht schlafen konnte und am nächsten Morgen auch noch ein warmes Frühstück serviert bekam. So etwas gibt es heutzutage nicht mehr. An die Seen verirrt sich mittlerweile eine andere Klientel. Wanderer, Bergsteiger und Outdoor-Sportler sind immer noch dabei, aber inzwischen machen die stressgeplagten Städter den größten Anteil aus. Sie verlangen Badezimmer mit Marmorausstattung, so groß wie Joannes gesamtes Haus. Sie verlangen Restaurants mit Michelin-Stern, sie wollen nächtliche Bootsfahrten und dabei rosa Champagner trinken.
Guy Rivertys Feriendomizile sind allesamt mit fünf Sternen ausgezeichnet. Offenbar legt er großen Wert auf eine moderne Einrichtung, Fußbodenheizung ist Standard. An diesem Nachmittag hat Joanne sich kurzzeitig in einem Tagtraum verloren, in dem sie sich ein ideales Leben in einem seiner Häuschen drüben in Hawkshead einrichtete. In Gedanken lief sie barfuß im Haus herum, spürte das glatte, warme Eichenparkett unter ihren Fußsohlen, ließ die Hand über die hochwertige Espressomaschine gleiten und den Blick zum riesigen, in die Wand integrierten Flachbildschirm-Fernseher schweifen. Nirgendwo hingen lästige Kabel herunter, um die Optik zu zerstören. Und im Obergeschoss lag ein gesichtsloser, namenloser, gut aussehender Adonis auf dem Bett und wartete auf sie …
In dem Moment riss sie sich selbst aus ihren Träumereien und wandte sich wieder der Arbeit zu.
Sie geht bei Mary vorbei, der Reinigungskraft, um ein paar Rennies für Ron auszuborgen. Als sie ins Büro zurückkommt, schaut Ron bekümmert drein.
»Willst du die schlechte oder die ganz schlechte Nachricht zuerst hören?«
Sie setzt sich auf seine Schreibtischkante. »Schieß los.«
»Noch ein Kind ist verschwunden.«
»Verdammt. Wie?«
»Die Einzelheiten weiß ich nicht, ich habe es eben erst erfahren. Was bedeutet …«
»Was bedeutet, dass er Lucinda Riverty nicht freigelassen hat. Was bedeutet, dass sie wahrscheinlich tot ist.«
»Willst du die andere schlechte Nachricht auch hören?«
»Bitte sehr.«
»Der Kollege am Empfangstresen unten hat alle Hände voll mit den Reportern der Boulevardblätter zu tun. McAleese möchte, dass du eine Presseerklärung
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