Die Schuld einer Mutter
noch einen Vorrat an Canesten Duo für Vaginalpilz sowie Glycerinzäpfchen – einmal musste ich Sam eines geben, als er unter wirklich schlimmer Verstopfung litt – und drei Flaschen Regaine gegen Haarausfall.
Schuldbewusst wühle ich in den Verpackungen, um nichts zu übersehen. Ich bin sprachlos über das Regaine, schließlich ist Guys Haar alles andere als schütter. Er hat dicke, glänzende, weiche Locken, die er sich gern mit einer Kopfbewegung aus der Stirn wirft. So wie Michael Heseltine zu seinen besten Zeiten.
Wie seltsam, eine Einsicht in das Intimleben fremder Menschen zu bekommen, einen verbotenen Blick auf die Mechanismen einer Familie; aber wahrscheinlich ist das gar nicht ungewöhnlich nach einem so katastrophalen Ereignis wie dem Verschwinden eines Kindes. Oder einem Selbstmordversuch. Die vielen Schichten der Ehrbarkeit werden bei dem Versuch, die Wahrheit herauszufinden, heruntergerissen, bis die Familie vollkommen nackt dasteht und den Blicken der anderen schutzlos ausgesetzt ist.
Ich nehme ein Fläschchen aus dem untersten Regal, ein Läusemittel, wie ich es bei meinen Kindern auch schon verwendet habe, obwohl es leider vollkommen nutzlos ist, und dann …
Und dann zittere ich am ganzen Leib, und meine Finger werden taub.
Fergus.
Kates Sohn. Wo ist er?
Wie konnte ich ihn nur vergessen? Du liebe Güte, was, wenn er hier ist und aufwacht und nach unten geht und seine Mutter in diesem Zustand sieht?
Als ich Kate entdeckte, vergaß ich vollkommen, dass er möglicherweise auch im Haus ist. Bitte, lass ihn bei seiner Tante Alexa sein, bete ich, während ich durch den Flur zu seinem Zimmer laufe. Bitte, lass ihn bei seinem Daddy sein. Bitte …
Ich knipse das Licht im Flur aus, um das Kinderzimmer nicht hell zu erleuchten und den Jungen zu erschrecken, und öffne die Tür so leise wie möglich. Meine Hand zittert. Ich warte kurz und halte die Luft an, um mich zu sammeln.
Dann öffne ich die Tür ganz langsam.
Fergus liegt schlafend in seinem Bett. Er hat es irgendwie geschafft, die Decke so zu verdrehen, dass seine Füße unbedeckt darunter herausragen. Aber im Raum ist es so warm, dass er davon nicht aufwacht. Ich bleibe auf der Schwelle stehen und weiß nicht, was ich tun soll. Ich könnte hineingehen und ihn wecken, ich könnte versuchen, ihn hier oben festzuhalten und von der Szene unten in der Küche abzulenken. Oder ich könnte die Tür wieder schließen und hoffen, dass er durchschläft, bis sie Kate abgeholt haben.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Fergus stöhnt ganz leise und dreht sich auf die Seite, weg von mir.
Ich muss mich entscheiden.
Weil mir nichts Besseres einfällt, ziehe ich vorsichtig den Schlüssel aus der Innenseite der Tür und schließe sie von außen ab. Ich weiß, dass das nicht die ideale Lösung ist. Falls der Junge innerhalb der nächsten zehn Minuten aufwacht, wird er in Panik geraten, weil die Tür sich nicht öffnen lässt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie dieses stille, sensible Kind in Panik gerät.
Auf einmal werde ich wütend auf Kate, weil sie mich in diese Lage gebracht hat. Warum hat sie nicht versucht, sich umzubringen, wenn Fergus in der Schule ist?
Dann reiße ich mich zusammen und sage mir, dass sie wahrscheinlich gar nichts gedacht hat. Wenn man sich umbringen will, ist wohl kein Platz mehr für rationale Gedanken.
Dennoch …
Kate, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?
Ein blaues Licht huscht über die Flurwände, und ich trete ans Fenster. Kate hat in diesem Bereich des Hauses im Erker eine wunderhübsche Leseecke eingerichtet. Hier steht ein dick gepolsterter, mit gestreiftem Stoff bezogener Sessel geschmackvoll schräg in der Ecke, daneben ein Bücherregal. Jemand – wahrscheinlich Fergus – liest gerade Kampf um die Insel von Arthur Ransome; das Buch liegt aufgeschlagen und umgedreht auf dem Beistelltischchen. Ich wollte James überreden, das Buch zu lesen, aber er gab nach zwei Seiten auf, weil er Gregs Tagebücher bevorzugt. Damals tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass die wenigsten Jungs Klassiker mögen. Offenbar hatte ich mich geirrt.
Aus dem Fenster im Obergeschoss beobachte ich, wie die Notärztin über den Gartenpfad trippelt. Ich muss mich beeilen.
Ich stehe am Kopf der Treppe, als sie zur Haustür hereinkommt. Sie schaut zu mir herauf. Sie hat ein wunderhübsches Gesicht, und ich stelle mir vor, wie viele Menschen im Moment der Todesangst in dieses Gesicht sehen und sich sofort getröstet fühlen.
»Sie
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