Die Schuld einer Mutter
Slipper und rauchen. Ich sehe einen Teenager auf Krücken, der an der Straße steht und sich den Hals verrenkt. Wahrscheinlich wartet er darauf, abgeholt zu werden.
Ein armer Tropf von Anfang fünfzig führt eine Umfrage durch. Mit mutig erhobenem Klemmbrett und freundlichem Gesicht spricht er einzelne Patienten an. Er hat das verstörte Aussehen eines kürzlich arbeitslos gewordenen Mannes.
Als ich auf den Eingang zugehe, öffnet sich die Tür automatisch, und einen Moment später stehe ich am Empfang. Eine füllige Dame schaut von ihrem Computermonitor auf. »Was kann ich für Sie tun?«, fragt sie freundlich. Sie hat die kräftigen Unterarme einer Dartspielerin und kurze stahlgraue Locken.
»Ich suche eine Mrs Kate Riverty, sie wurde heute Morgen eingeliefert.«
Die Empfangsdame tippt etwas ein und schaut auf den Bildschirm, der so gedreht ist, dass ich ihn nicht einsehen kann. »Ah, wie ich sehe, wurde sie gerade auf die Station verlegt.«
»Bedeutet das etwas Gutes?«, frage ich nervös. Ich habe Angst, Kates Zustand könnte sich verschlechtert haben.
»Normalerweise bedeutet es, dass ein Patient auf dem Weg der Besserung ist«, sagt die Dame nüchtern und zeigt über meine Schulter. »Gehen Sie einfach durch diese Tür wieder hinaus, über den Parkplatz – bitte brechen Sie sich dabei keine Knochen – und rüber zu dem braunen Gebäude. Im zweiten Stock finden Sie Station vier.«
»Danke«, sage ich und mache mich auf den Weg.
Auf Station vier gibt es sechs Betten. Alle sind belegt.
Ich sehe Alexa am hintersten Ende des Raumes an Kates Bett sitzen, und mein Magen krampft sich zusammen. Ich fange zu zittern an, und der kalte Schweiß fließt an meinen Achseln herunter. Alexa dreht den Kopf und sieht mich, ohne eine Miene zu verziehen. Ihr Gesicht ist eine steinerne Maske.
Kate schläft, oder sie ist immer noch bewusstlos. In ihrem rechten Handrücken steckt eine Braunüle, und sie trägt ein weißes Krankenhausnachthemd. Sie sieht aus wie eine Psychiatriepatientin. Was vielleicht daran liegt, dass alle anderen Patientinnen auf der Station ihre eigenen Nachthemden mitgebracht haben und sie deswegen ein wenig deplatziert wirkt.
»Wie geht es ihr?«, frage ich, aber Alexa wendet sich ab. Sie hat sich noch nicht entschieden, ob sie noch mit mir redet.
Schließlich zischt sie mich an: »Musstest du unbedingt herkommen?«, und ich sage, ja, natürlich musste ich herkommen. Ich bin diejenige, die sie gefunden hat.
Was Alexa zu besänftigen scheint. Ich kann sie förmlich denken sehen: Was, wenn Kate sie nicht gefunden hätte …
Sie spricht, ohne mich anzusehen. »Angeblich«, sagt sie, »wird sie sich körperlich recht schnell erholen. Die Pillen konnten nicht lange genug wirken, um wirklichen Schaden anzurichten. Was die Psyche angeht, nun ja, da werden wir wohl abwarten müssen.«
Alexas Ton ist eiskalt. Sie spuckt die Worte eines nach dem anderen aus, und es ist offensichtlich, dass sie für Kates Zustand mich allein verantwortlich macht – und dafür, dass ich mit ihrem Mann geschlafen habe und dass Lucinda immer noch nicht wieder da ist. Hätte ich Kate nicht gefunden und ihr das Leben gerettet, würde Alexa mich eigenhändig von der Station werfen.
Ich ziehe mir einen Stuhl aus der Ecke heran und setze mich neben Alexa. Angewidert macht sie mir Platz. Ich spüre, dass sie nicht mit mir reden will, deswegen richte ich meine Aufmerksamkeit auf Kate.
Ihr feines blondes Haar liegt auf dem Kissen ausgebreitet und verleiht ihr ein unwirkliches Aussehen. Die Haut an ihrer Stirn glänzt bläulich, so als hätte man sie mit Gelee eingerieben. Ich ertrage den Anblick kaum. Ich senke meinen Blick, und sofort fallen mir ihre Lippen auf. Sie sind so schmal. Sie scheinen gar nicht in ihr Gesicht zu gehören. In den Mundwinkeln hängen letzte Spuren von schwarzer Kohle, die es so aussehen lassen, als ziehe Kate die Mundwinkel herunter.
»Hat sie schon etwas gesagt?«
Alexa schüttelt den Kopf. »Sie hat ein paarmal die Augen aufgemacht, das war alles. Die Schwestern haben gesagt, sie müsse sich jetzt erst einmal ausschlafen. Wir sollen uns keine Sorgen machen, wenn sie nicht mit uns kommunizieren will.«
»Die arme Kate«, sage ich, und auf einmal tut mir das Ganze unendlich leid. Ich bin hergekommen wie auf Autopilot. Die Nachricht von Guys Verhaftung hat mich so verwirrt, dass ich nicht einmal wüsste, was ich zu Kate sagen sollte, wenn sie wach wäre. Ich bete stumm und bedanke mich dafür, dass sie
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