Die Schuld einer Mutter
entfernte Verwandte der königlichen Familie. Sie hat blondes Haar und lange Beine, ist Ende dreißig und hat gerade ihr erstes Kind bekommen. »Ein wunderbares Gefühl«, schwärmt sie. »Es ist einfach nur unglaublich. Es ist so wunderschön, es ist ein Wunder. Ich spüre so viel Liebe.«
Ich klappe die Zeitschrift angewidert zu und wische mir in Gedanken die Hände ab.
Nur einmal – ein einziges Mal – möchte ich in einer Zeitschrift von einer frischgebackenen Mutter lesen, die sagt: »Das Ganze ist wirklich anstrengend. Es ist gar nicht so, wie ich es mir erträumt hatte. Ich glaube, ein zweites Kind schaffe ich nicht … und …« – bei diesen Worten schnäuzt sie sich in ihr Taschentuch – »mein Ehemann ist mir gar keine Hilfe. Ich hatte ihn mir immer als wunderbaren Vater vorgestellt, aber, um ehrlich zu sein, bleibt die ganze Arbeit an mir hängen. Er ist eine Riesenenttäuschung.«
Gedankenverloren werfe ich Kate einen Blick zu und komme mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Fast falle ich vom Stuhl.
Sie sieht mich aus weit geöffneten Augen an.
»Wie geht es dir?«, frage ich hastig und versuche, mich zu fangen. Meine Stimme klingt verzweifelt und aufgesetzt.
Ihre Augen sind glasig und entzündet. Sie versucht zu lächeln. »Was machst du denn hier?«, fragt sie.
»Ich wollte dich besuchen.«
»Danke.«
»Keine Ursache«, sage ich schnell. »Alexa ist auch hier, aber sie musste mal eben nach draußen, um zu telefonieren. Sie kommt gleich zurück.« Kate schließt die Augen, und ich greife nach ihrer Hand und drücke sie sanft. »Wir sind froh, dass du es geschafft hast, Kate.«
Ich werfe einen Blick zum Stationseingang und wünsche mir, Alexa käme schnell zurück. Ich bin mit der Situation ein bisschen überfordert und weiß nicht genau, was ich tun soll.
Von Alexa keine Spur.
Mit geschlossenen Augen flüstert Kate: »Wo bin ich?«, und das erschreckt mich.
Vor einem Augenblick noch dachte ich, sie wäre bei vollem Bewusstsein. Dass sie weiß, was passiert ist, und es nur deswegen nicht erwähnt, weil es ihr peinlich ist. Oder weil sie mit mir nicht darüber reden will.
Auf einmal komme ich mir total unfähig vor. Ich bin tatsächlich nicht der Mensch, mit dem sie reden sollte. Auch wenn ich sie gefunden habe.
»Du bist im Krankenhaus«, sage ich vorsichtig. »Lancaster Infirmary.«
»Oh.«
»Weißt du, warum du hier bist?«
»Eigentlich nicht.«
»Das macht nichts. Ruh dich einfach aus«, sage ich, und ihre Augenlider beginnen zu flattern. Sie sieht aus wie auf einem dieser fiesen Schnappschüsse von Prominenten, die im Morgengrauen aus irgendwelchen Clubs torkeln. Mit hängenden Lidern und sturzbetrunken.
»Lisa«, fragt sie, »ist Guy hier?«
»Noch nicht.«
»Kommt er noch?«
Betreten sage ich: »Bestimmt«, weil mir jetzt, wo ich so direkt gefragt werde, nichts Besseres einfällt.
Wird er kommen?
Wahrscheinlich nicht.
Er sitzt in einer Zelle oder wird gerade zu seiner vermissten Tochter befragt.
Da fällt mir ein, dass Kate sich noch gar nicht nach Lucinda erkundigt hat. Ist sie wieder da? Gibt es Neuigkeiten? Das würde man doch erwarten … oder?
Dass sie nicht nachfragt, zementiert meinen heimlichen Verdacht, dass Kate insgeheim Guy für den Schuldigen hält. Ich bin mir sicher, egal, wie zugedröhnt ich wäre, meine erste Frage wäre: »Wo ist mein Kind?« Ich würde es schon beim Aufwachen rufen. »Wo ist mein …«
Auf einmal und wie aus dem Nichts fängt Kate heftig zu zittern an. Ich springe auf. »Kate? Kate? Ist alles in Ordnung?«
Sie nickt, ist offenbar unfähig zu sprechen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich auf den Notknopf drücken? Soll ich loslaufen und eine Schwester holen?
Ich will gerade Alarm schlagen, als eine Träne über Kates Wange kullert. Sie öffnet den Mund, aber kein Laut kommt heraus. Und erst da begreife ich, dass sie zu erschüttert ist, um mit mir zu sprechen. Sie hat nicht gezittert. Es sind Schluchzer, die sie schütteln.
»Oh, Kate«, sage ich und nehme sie in den Arm. Wieder fällt mir auf, wie dünn sie ist. Ich spüre die Rippen an ihrem Rücken. Es ist, als drückten sie von innen direkt gegen das Nachthemd, als wären kein Fleisch und keine Haut dazwischen.
Ich lege meine Wange an ihren Kopf und küsse sanft ihr Haar. Es riecht leicht säuerlich nach Erbrochenem, aber nicht völlig unangenehm, fast so wie eine vielbenutzte Thermoskanne. Ich weiche nicht zurück. Irgendwo in der Ferne höre ich das
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