Die Schuld einer Mutter
würde mal raten, ihr habt eine Scheißahnung davon, wo meine Tochter ist, und dieses andere Mädchen auch, ihr seid verzweifelt. Nun müsst ihr irgendwas unternehmen …«
Joanne blättert zwei Seiten weiter. Sie versucht zu verbergen, dass sie in der Tat im Dunkeln tappt. »Ihre Frau hat Ihnen für gestern Nachmittag ein Alibi gegeben, ist das richtig?«
»Das wissen Sie doch. Wir haben das schon besprochen … wie oft eigentlich? Ich habe den Überblick verloren.«
»Wo waren Sie gestern Abend?«
»Zu Hause.«
»Sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
»Wo waren Sie heute Morgen, als Mrs Kallisto Ihre Frau bewusstlos vorgefunden hat?«
»Ich war unterwegs.«
»Wo?«
»Das ist unwichtig.«
Joanne legt den Kopf schief. »Das finde ich nicht.«
»Muss ich auf diese Frage antworten?«
»Nein, aber …«
»Dann werde ich es auch nicht.«
»Mr Riverty, lassen Sie es mich noch einmal erklären. Im Moment stehen Sie nicht unter Arrest. Aber das kann sich in der Minute ändern, in der Sie beschließen, nicht mit uns zu kooperieren. Es liegt an Ihnen. Ich an Ihrer Stelle würde mir den Ärger ersparen, ganz zu schweigen von der schlechten Presse, und einfach die Fragen beantworten.«
»Um mich zu verhaften, müssen Sie mir erst einmal etwas vorwerfen. Was genau planen Sie denn, mir vorzuwerfen, Detective?«
»Wir dürfen Sie auch ohne Haftbefehl festhalten. Ist Ihnen das klar?«
Er starrt sie unbeeindruckt an. »Ja, natürlich. Und wenn es das ist, was Sie tun möchten, dann sorgen Sie gefälligst dafür, dass mein Sohn versorgt ist. Er wird in Kürze von der Schule abgeholt werden müssen.«
Joanne spürt, dass er ihr das Leben schwermachen will. Er appelliert an ihren Mutterinstinkt. Das ist ungewöhnlich für einen Verdächtigen, wenngleich Joanne es nicht zum ersten Mal erlebt.
Die meisten Leute rasten beim Verhör einfach nur aus. Daran hat sie sich längst gewöhnt. Sie rechnet sogar damit. Sie wurde schon als alles Mögliche beschimpft. Die übelsten Flüche fallen übrigens den Frauen ein. Nie hätte sie gedacht, dass Frauen in der Lage wären, sich anderen Frauen gegenüber so hasserfüllt aufzuführen.
Aber inzwischen kann Joanne nichts mehr überraschen. In ihrem Job bekommt sie es ständig mit dem Abschaum der Gesellschaft zu tun. Immer dieselben Familien, Gesichter, Probleme, wieder und wieder. Nichts davon berührt sie noch. Zumindest tut sie so.
Sie steckt die Kappe auf den Stift zurück und setzt sich aufrecht hin. »Sie sind selbst dafür zuständig, die Betreuung Ihres Sohnes nach der Schule zu organisieren, Mr Riverty. Möchten Sie telefonieren?« Sie hält inne, wartet auf eine Antwort. Als keine kommt, fügt sie hinzu: »Ehrlich gesagt könnte ich einen Kaffee gebrauchen. Vielleicht wäre das jetzt der geeignete Moment für eine Pause.«
Er sagt immer noch nichts, er kneift nur die Augen zusammen, um sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen.
Joanne schiebt ihm das Telefon hin und steht auf. »Lassen Sie sich Zeit«, sagt sie. »Es besteht kein Grund zur Eile, wir haben den ganzen Tag Zeit. Ich gehe dann mal und hole mir einen grottenschlechten Kaffee.« Sie überlegt kurz und sagt: »Ach, und wo wir gerade dabei sind, sollten Sie vielleicht auch gleich Ihren Anwalt anrufen. Sie wissen schon, zwei Fliegen mit einer Klappe …«
Sie sammelt ihre Unterlagen zusammen, wirft DC Cunningham einen kurzen Blick zu und eilt hinaus in den Korridor, wo sie beinahe mit Cynthia Spence zusammenstößt. Cynthia arbeitet eigentlich in der Verwaltung und wurde nur an die Kripo ausgeliehen, um die Kollegen zu entlasten. Früher war sie selbst Ermittlerin gewesen, deswegen nimmt sie der Schutzpolizei manchmal die routinemäßigen Befragungen ab.
Joanne hat schon mehrfach mit Cynthia zusammengearbeitet. Eine fähige Mitarbeiterin.
Cynthia deutet mit dem Kopf in Guy Rivertys Richtung und fragt: »Redet er schon?«
Joanne tritt einen Schritt zur Seite, weg von dem kleinen Glasrechteck in der Feuerschutztür und aus Rivertys Sichtfeld. »Er ist ganz schön gerissen«, sagt sie. »Ich bekomme nichts aus ihm heraus.«
»Und nun lässt du ihn im eigenen Saft schmoren?«
»Meine besten Tricks habe ich von dir, Cynthia.«
Cynthia wirft einen Blick zu Guy hinein. »Du solltest ihn mindestens für eine halbe Stunde da sitzen lassen.«
»So lange?«
»Sein Auge zuckt schon wie wild. Ich vermute mal, er ist es nicht gewohnt zu warten. Auf keinen Fall gehört er zu der Sorte derer, die einfach den Kopf auf den
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