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Die Schuld

Titel: Die Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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mittlerweile saß, die blass aussah und in großen Schlucken Orangensaft trank. Er wollte zu ihr sagen: »Herzlichen Glückwunsch, Miss Tackett, Ihre Aorta ist ausreichend geschädigt«, aber so gratulierte man nur den Anwälten. Mary-Beth wurde gerufen, und Oscar erklärte ihnen das Procedere für das Verfahren, wobei er nur die positiven Punkte erwähnte.
    Das EKG werde von einem Kardiologen untersucht, der seinen Bericht an die für die Sammelklage zuständige Abwicklungsagentur schicke. Die Höhe der Entschädigung sei bereits von einem Richter genehmigt worden.
    »Wie viel?«, fragte Mary-Beth, die mehr an dem Geld interessiert zu sein schien als ihre Schwester. Nora hatte wieder zu beten begonnen.
    »Ausgehend von Miss Tacketts Alter, dürften es etwa hunderttausend Dollar sein«, erwiderte Oscar, der vorläufig verschwieg, dass dreißig Prozent davon an die Kanzlei J. Clay Carter II. gehen würden.
    Nora, die jetzt wieder hellwach war, rief: »Hunderttausend Dollar!«
    »Richtig, Miss Tackett.« Wie ein Chirurg vor einer Routineoperation hatte Oscar gelernt, die Erfolgschancen bewusst herabzusetzen. Es war besser, die Erwartungen etwas zu dämpfen, damit der Schock über das Anwaltshonorar nicht gar so groß war.
    Nora dachte an einen neuen, extrabreiten Trailer und eine neue Satellitenschüssel. Mary-Beth dachte an eine Wagenladung Ultra Slim-Fast. Als der Papierkram erledigt war, bedankte sich Oscar für ihr Kommen.
    »Wann kriegen wir das Geld?«, erkundigte sich Mary-Beth.
    »Wir?«, fragte Nora.
    »Innerhalb von sechzig Tagen«, sagte Oscar, während er die beiden durch die Seitentür hinausbegleitete.
    Leider konnte bei den nächsten siebzehn Patienten nur eine unzureichende Schädigung der Aorta festgestellt werden, und Oscar brauchte dringend etwas zu trinken. Aber Nummer achtzehn, ein junger Mann, der die Waage bis auf zweihundertdreiunddreißig Kilo hochtrieb, war ein Volltreffer. Sein EKG war bildschön - vierzig Prozent Insuffizienz. Er hatte die Skinny Bens zwei Jahre lang geschluckt. Da er erst sechsundzwanzig war und - zumindest statistisch gesehen - noch einunddreißig Jahre mit einem geschädigten Herzen leben würde, war sein Fall mindestens fünfhunderttausend Dollar wert.
    Am späten Nachmittag kam es zu einem hässlichen Zwischenfall. Eine schwergewichtige junge Dame geriet in Rage, als sie von Dr. Livan darüber informiert wurde, dass ihr Herz völlig in Ordnung war. Keine Spur von einer Schädigung. Aber sie hatte in der Stadt - bei der Kosmetikerin - gehört, dass Nora Jackett einhunderttausend Dollar bekommen würde, und obwohl sie weniger wog als Nora, hatte sie die Pillen doch auch genommen und daher Anspruch auf eine Entschädigung in gleicher Höhe. »Ich brauch das Geld«, beharrte sie.
    »Tut mir Leid«, sagte Dr. Livan immer wieder.
    Man rief Oscar. Die junge Dame wurde laut und ausfallend. Um sie aus dem Motel zu bekommen, versprach er ihr, dass sich der Kardiologe ihr EKG trotzdem ansehen werde. »Wir holen eine zweite Diagnose ein und lassen sie von den Ärzten in Washington überprüfen«, sagte er, als wüsste er, wovon er sprach. Das beruhigte sie so weit, dass sie ging.
    Was mache ich hier bloß?, fragte sich Oscar wiederholt. Er bezweifelte zwar, dass jemand aus Larkin in Yale gewesen war; trotzdem machte er sich Sorgen. Falls das bekannt wurde, wäre sein Ruf ruiniert. Das Geld, denk an das Geld, sagte er sich immer und immer wieder.
    Sie testeten in Larkin einundvierzig Skinny-Ben-Patienten. Drei erfüllten die Bedingungen für eine Entschädigung. Oscar ließ von jedem einen Anwaltsvertrag unterschreiben und reiste mit der sonnigen Aussicht auf zweihunderttausend Dollar Anwaltshonorar ab. Nicht schlecht für einen Tag in der Provinz. Er raste in seinem BMW schnurstracks nach Washington zurück. Der nächste Raubzug in das Herz des Landes würde eine ähnlich geheime Tour nach West Virginia sein. Für den nächsten Monat waren zwölf solche Reisen geplant.
    Denk nur an das Geld. Es ist ein einträgliches Geschäft. Mit deinem Beruf als Anwalt hat es nichts zu tun. Such sie, finde sie, lass sie unterschreiben, verschaff ihnen die Entschädigung, nimm das Geld und mach dich aus dem Staub.
30
    A m 1. Mai kündigte Rex Crittle bei der Buchhaltungsfirma, für die er achtzehn Jahre lang gearbeitet hatte, und zog eine Etage höher, um Controller bei J. Clay Carter zu werden. Da man ihm ein erheblich höheres Gehalt und bessere Sozialleistungen angeboten hatte, hatte er nicht

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