Die Schuld
zu früh dran, was nicht ungewöhnlich war; in der Regel kamen die Betroffenen immer vor der angegebenen Zeit.
Das »Ma'am« hatte er sich im Lauf der Zeit während seiner vielen Reisen außerhalb Washingtons angewöhnt. Aufgewachsen war er damit nicht.
Volltreffer, sagte er zu sich, als er Nora sah. Mindestens hundertsechzig Kilo, wahrscheinlich sogar hundertachtzig. Traurig, dass er ihr Gewicht schon so gut schätzen konnte wie ein Schlachter das seiner Steaks. Traurig, dass er es überhaupt tat.
»Sind Sie der Anwalt?«, fragte Mary-Beth misstrauisch. Oscar hatte das schon tausendmal mitgemacht.
»Ja, der bin ich. Der Arzt ist da hinten. Sie müssten zuerst einige Formulare ausfüllen.« Er gab ihr ein Klemmbrett mit ein paar Fragebögen, die so aufgebaut waren, dass sie auch der Dümmste verstehen konnte. »Wenn Sie eine Frage haben, stellen Sie sie bitte.«
Mary-Beth und Nora gingen zu den bereitgestellten Klappstühlen. Nora ließ sich mit einem kräftigen Plumps auf ihren Stuhl fallen und fing sofort an zu schwitzen. Nach kurzer Zeit waren die beiden vollkommen mit dem Ausfüllen der Formulare beschäftigt. Alles war ruhig, bis die Tür aufging und eine korpulente Frau den Kopf hereinstreckte. Ihr Blick blieb an Nora hängen, die wie ein von den Scheinwerfern eines Autos erfasstes Reh zurückstarrte. Zwei Dicke, die man bei der Jagd nach einer Entschädigung erwischt hatte.
»Kommen Sie doch herein«, sagte Oscar, der sich inzwischen wie ein Verkäufer vorkam, mit einem herzlichen Lächeln. Er lockte die Frau durch die Tür, drückte ihr die Formulare in die Hand und bugsierte sie ans andere Ende des Raums. Zwischen hundertzehn und hundertfünfundzwanzig Kilo.
Jeder Test kostete tausend Dollar. Eine Getestete von zehn war eine Skinny-Ben-Mandantin. Für einen Fall gab es zwischen hundertfünfzig- und zweihunderttausend Dollar. Sie sammelten den Rest der Dicken ein, da achtzig Prozent der Fälle bereits den Weg zu einem Anwalt gefunden hatten.
Aber auch mit dem Rest konnte man ein Vermögen machen. Zwar nicht in der Größenordnung von Dyloft, doch immerhin ein paar Millionen.
Nachdem Nora die Fragebögen ausgefüllt hatte, stand sie mühsam auf. Oscar nahm ihr die Formulare ab, warf einen Blick darauf, vergewisserte sich, dass sie tatsächlich Skinny Bens geschluckt hatte, und unterschrieb unten. »Durch diese Tür, bitte. Der Arzt wartet schon auf Sie.«
Nora ging durch einen großen Schlitz in der Faltwand; Mary-Beth blieb zurück und fing an, auf den Anwalt einzureden.
Livan stellte sich Nora vor, die kein Wort von dem verstand, was er sagte. Er konnte sie ebenfalls nicht verstehen. Dann maß er ihren Blutdruck und schüttelte missbilligend den Kopf hundertachtzig zu hundertvierzig. Sie hatte einen Puls von tödlichen hundertdreißig Schlägen pro Minute. Er deutete auf eine Industrieschlachtwaage, die sie widerwillig betrat - hundertsechsundsiebzig Kilo.
Vierundvierzig Jahre alt. Bei ihrem Zustand hatte sie Glück, wenn sie den fünfzigsten Geburtstag noch erlebte.
Er öffnete eine Seitentür und führte sie nach draußen, wo ein Sanitätswagen geparkt war. »Wir machen den Test hier drin«, sagte er. Die beiden Hecktüren standen offen, zwei medizinischtechnische Assistenten - ein Mann und eine Frau, beide in weißen Kitteln - warteten schon. Sie halfen Nora hinauf und legten sie auf eine Trage.
»Was ist das?«, fragte sie erschrocken und deutete auf das am nächsten stehende Gerät.
»Das ist ein Echokardiogramm«, sagte einer der beiden Assistenten, den sie sogar verstehen konnte.
»Damit scannen wir Ihren Brustkorb«, erklärte die Frau. »Es ist völlig schmerzlos«, fügte der Mann hinzu.
Nora machte die Augen zu und betete darum, dass sie es überlebte.
Die Skinny-Ben-Fälle waren so lukrativ, weil der Nachweis so einfach war. Im Laufe der Zeit schwächte das Medikament, das im Übrigen wenig zu einer Gewichtsabnahme beitrug, die Aorta. Der Schaden war irreversibel. Bei einer Herzklappenschwäche - auch Mitralklappeninsuffizienz genannt - von mindestens zwanzig Prozent bestand automatisch ein Anspruch auf Entschädigung.
Dr. Livan studierte den Ausdruck von Noras EKG, während sie noch tief in ihr Gebet versunken war, und signalisierte den Assistenten, dass alles in Ordnung war: zweiundzwanzig Prozent. Er nahm den Ausdruck mit in den Konferenzraum, wo Oscar Formulare an eine ganze Schar potenzieller Mandanten verteilte. Oscar ging mit ihm in den hinteren Teil des Raums, wo Nora
Weitere Kostenlose Bücher