Die Schuld
die über die offiziell registrierten Stationen seines Leidensweges informierten. Mit vierzehn hatte er einen Monat auf der Entzugsstation eines Washingtoner Jugendgefängnisses verbracht, des D.C. Youth Detention Center. Als er entlassen wurde, besorgte er sich sofort beim erstbesten Dealer Crack. Auch zwei Monate im Orchard House, einer berüchtigten Institution für drogensüchtige Teenager, wo diese während des kalten Entzugs eingesperrt wurden, brachten keinen Erfolg. Später räumte Tequila gegenüber Talmadge X ein, er habe im »OH« genauso viele Drogen konsumiert wie draußen. Mit sechzehn folgte das Clean Streets, wo ein ähnlich rigoroser Kurs verfolgt wurde wie im Deliverance Camp. Nachdem Tequila immerhin dreiundfünfzig Tage durchgehalten hatte, verschwand er ohne ein einziges Wort. In der Aktennotiz von Talmadge X hieß es: »… war zwei Stunden nach seinem Verschwinden schon wieder auf Crack.« Mit siebzehn verurteilte ihn ein Jugendrichter zu einem Zwangsaufenthalt in einem Sommercamp für verhaltensauffällige Teenager, aber da die Kontrollen dort eher lax waren, gelang es Tequila sogar, durch den Verkauf von Drogen Geld zu verdienen. Sein letzter Entzugsversuch vor dem D-Camp wurde von der Grayson Church organisiert und von Reverend Jolley beaufsichtigt, einem allseits bekannten Experten für Drogentherapie. Später verlieh Jolley in einem Brief an Talmadge X seiner Meinung Ausdruck, Tequila sei einer jener tragischen Fälle, bei denen »wahrscheinlich keinerlei Hoffnung« bestehe.
Tequilas Geschichte mochte deprimierend sein, aber bemerkenswert blieb, dass er nie gewalttätig geworden war. Fünfmal war er wegen Einbruchs festgenommen und verurteilt worden, einmal wegen Ladendiebstahls und zweimal wegen Besitzes geringfügiger Mengen von Drogen. Tequila hatte nie eine Waffe benutzt - zumindest war er nie mit einer erwischt worden. Das war Talmadge X nicht entgangen: »… hat die Neigung, jeglicher gewalttätigen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen«, hielt er in einer Aktennotiz am 39. Tag von Tequilas Aufenthalt im Camp fest. »Er scheint Angst vor den körperlich stärkeren Heimbewohnern zu haben, aber auch vor den meisten schwächeren.«
Am 45. Tag wurde Tequila erneut von einem Arzt untersucht. Mittlerweile hatte er deutlich zugenommen und wog knapp dreiundsechzig Kilo. »Hautabschürfungen und Ausschlag« gehörten der Vergangenheit an. In einigen Notizen wurde berichtet, Tequila mache Fortschritte beim Lesenlernen, und auch seine künstlerischen Neigungen fanden Erwähnung. Laufe der Zeit wurden die Einträge immer kürzer. Das Leben im D- Camp war geregelt und bald alltäglich geworden. An etlichen Tagen gab es gar keine Notizen mehr.
Am 80. Tag fand sich eine ganz neuartige Bemerkung: »Tequila begreift, dass er der göttlichen Führung bedarf, wenn er clean bleiben will. Allein schafft er es nicht. Er sagt, er würde am liebsten für immer bei uns bleiben.«
Der Eintrag vom 100. Tag lautete: »Wir haben sein kleines Jubiläum mit Schokoladenkuchen und Eis gefeiert. Tequila hat eine kurze Rede gehalten und geweint. Ab sofort hat er zwei Stunden Ausgang.«
104. Tag: »Zwei Stunden Ausgang. Nach zwanzig Minuten war er wieder da. Hatte sich nur ein Eis gekauft.«
107. Tag: »Schickte ihn zur Post, er war fast eine Stunde weg, kam zurück.«
110. Tag: »Zwei Stunden Aus gang, kam zurück, keine Probleme.«
Der letzte Eintrag stammte vom 115. Tag: »Zwei Stunden Ausgang, kam nicht zurück.«
Noland bemerkte, dass sie die Akte fast durchgesehen hatten. »Noch Fragen?«, erkundigte er sich, als hätten Clay und Rodney bereits genug von seiner Zeit in Anspruch genommen.
»Eine ziemlich traurige Geschichte.« Mit einem tiefen Seufzer klappte Clay die Akte zu. Fragen hatte er reichlich, doch Noland würde sie nicht beantworten können oder wollen.
»Das ist eine Welt des Elends, Mr Carter, aber dieser Fall ist tatsächlich einer der traurigsten. Mich rührt so leicht nichts zu Tränen, doch bei Tequila habe ich geweint.« Noland stand auf. »Brauchen Sie Kopien?« Das Treffen war beendet.
»Vielleicht später«, antwortete Clay. Nachdem sie sich bedankt hatten, begleitete Noland sie zur Tür.
Während Rodney sich im Auto anschnallte, ließ er seinen Blick über die Straße schweifen. »Hey, wir haben einen neuen Freund.«
Clay überprüfte gerade den Benzinstand und hoffte, dass sie es noch bis zum OPD schaffen würden. »Was für einen Freund?«
»Siehst du den weinroten
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