Die Schuld
dass der Kaffee nicht schmeckte. »Vor ein paar Tagen hat Jermaine einen ähnlichen Fall übernommen«, sagte er. »Ein Junge auf Entzug, der ein paar Monate weggesperrt war. Dann ist er verschwunden. Keine Ahnung, ob er ausgebrochen ist oder Ausgang hatte, aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte er sich eine Waffe besorgt und auf zwei Leute geschossen. Einer hat's nicht überlebt.«
»War es geplant oder willkürlich?«
»Was ist hier schon willkürlich? Zwei Typen in nicht versicherten Autos fabrizieren einen Auffahrunfall und schießen aufeinander. Ist das nun willkürlich? Oder gerechtfertigt?«
»Ging es bei dem Junkie um Drogen, Raub oder Notwehr?«
»Meiner Meinung nach war es blanker Zufall. Um nicht zu sagen Willkür.«
»In welcher Einrichtung war er?«
»Nicht im D-Camp, sondern irgendwo in der Nähe von Howard, wenn ich mich richtig erinnere. Aber ich habe die Akte nicht gesehen. Jermaine ist ziemlich langsam, wie du weißt.«
»Also arbeitest du nicht an dem Fall?«
»Nein, ist mir nur so zu Ohren gekommen.«
Durch Gerüchte und Tratsch wusste Rodney mehr über die OPD-Anwälte und ihre Fälle als Glenda, die Direktorin. »Warst du schon mal im D-Camp?«, fragte Clay, während er in die W-Street einbog.
»Ein- oder zweimal. Das ist eine Entziehungsanstalt für die ganz schweren Fälle, sozusagen die letzte Ausfahrt vor dem Friedhof. Der Entzug da ist kein Zuckerschlecken, und das Personal versteht keinen Spaß.«
»Kennst du Talmadge X?«
»Nie von ihm gehört.«
Diesmal lungerte keine Clique von Halbstarken auf dem Bürgersteig herum. Nachdem Clay den Wagen direkt vor der Tür geparkt hatte, stürmten sie zum Eingang. Talmadge X war nicht im Haus, sondern wegen eines Notfalls in ein Krankenhaus gerufen worden. Ein Kollege namens Noland empfing sie freundlich und sagte, er sei der Chef der Betreuer. Nachdem sie in seinem Büro an einem kleinen Tisch Platz genommen hatten, gab Noland ihnen Tequila Watsons Akte und forderte sie auf, sie in Ruhe durchzusehen. Clay bedankte sich. Er war sicher, dass die Akte gesäubert worden und folglich unvollständig war.
»Wir halten es hier immer so, dass einer von uns im Raum bleibt, wenn Fremde sich eine Akte ansehen«, erklärte Noland. »Kopien kosten fünfundzwanzig Cent pro Stück, falls Sie welche brauchen sollten.«
»Natürlich, ich verstehe«, sagte Clay. Über dieses Procedere würde Noland kaum mit sich reden lassen. Wenn Clay die gesamte Akte einsehen wollte, konnte er sie jederzeit durch eine richterliche Anordnung in seinen Besitz bringen. Noland setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Ein beeindruckender Stapel von Unterlagen verriet, dass jede Menge Papierkram auf ihn wartete. Clay begann, die Akte durchzublättern, und Rodney machte nach seinen Anweisungen Notizen.
Tequilas Geschichte war so traurig wie vorhersagbar. Im Januar war er auf Initiative der Sozialfürsorge ins D-Camp eingewiesen worden. Eine Überdosis hatte ihn fast das Leben gekostet. Zu dieser Zeit wog er bei einer Körpergröße von einem Meter achtzig gerade fünfundfünfzig Kilo. In dem Entziehungsheim wurde er einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterzogen. Er hatte etwas Fieber, Schüttelfrost und Kopfschmerzen, was bei Schwerstabhängigen nichts Ungewöhnliches war. Ansonsten wurde außer Unterernährung und einer leichten Grippe nichts Bemerkenswertes festgestellt abgesehen davon, dass sein Körper durch den Drogenmissbrauch insgesamt in einem desolaten Zustand war. Laut Angaben des Arztes war er wie alle neu aufgenommenen Patienten für dreißig Tage eingesperrt und erst einmal regelmäßig ernährt worden.
Die Aktennotizen von Talmadge X informierten Clay und Rodney über Tequilas Vorgeschichte. Sein Abstieg hatte bereits im Alter von acht Jahren begonnen, als er mit seinem Bruder einen Kasten Bier von einem Lieferwagen klaute. Nachdem die beiden sich die eine Hälfte einverleibt hatten, verkauften sie die andere, um von dem Erlös eine Riesenflasche billigen Wein zu erstehen. Tequila wurde von mehreren Schulen geworfen. Als er mit etwa zwölf Jahren zum ersten Mal Crack rauchte, war seine schulische Karriere beendet. Von nun an finanzierte er seinen Lebensunterhalt mit Diebstahl.
Da sein Gedächtnis durch den exzessiven Crackkonsum praktisch zerstört war, lagen diese Jahre für Tequila selbst in einem undurchdringlichen Nebel. Doch Talmadge X hatte sich kundig gemacht, und in Tequilas Akte fanden sich Briefe und Ausdrucke von E-Mails,
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