Die Schuld
Entziehungseinrichtung, wo er fast vier Monate eingesperrt war. Er war drogenabhängig, ein Straßenjunge, der nicht viel Glück im Leben hatte. Der Entzug wurde medikamentös unterstützt. Wir glauben, dass ihn eines der Medikamente so hat durchdrehen lassen, dass er sich wahllos ein Opfer suchte und einfach abdrückte.«
»Dann war es kein Drogendeal, bei dem irgendwas schief gelaufen ist?«
»Nein, war es nicht.«
Ihr Blick schweifte ins Leere, ihre Augen wurden feucht, und einen Augenblick lang rechnete Rodney mit einem Zusammenbruch. Doch dann sah sie ihn an und fragte: »Viel Geld? Wie viel?«
»Mehrere Millionen Dollar«, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte diese Miene ein Dutzend Mal geübt, weil ihm klar gewesen war, dass er sonst nicht hätte antworten können, ohne dass seine Augen leuchteten.
Wieder keine erkennbare Reaktion von Adelfa, zumindest nicht im ersten Moment. Dann glitt ihr Blick erneut durch den Raum. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Warum sollte ich das tun? Ich kenne Sie doch gar nicht. Warum sollte ich hier reinmarschieren und Ihnen einen Bären aufbinden? Das Geld liegt auf dem Tisch. Viel Geld. Viel Geld der Pharmaindustrie, und jemand möchte, dass Sie es nehmen.«
»Welche Firma?«
»Hören Sie, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Meine Aufgabe ist es, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, Ihnen zu erzählen, worum es geht, und Sie einzuladen, sich mit Mr Carter zu treffen. Das ist der Anwalt, für den ich arbeite. Er wird Ihnen alles erklären.«
»Ein Weißer?«
»Ja. Ein guter Mann. Ich arbeite seit fünf Jahren mit ihm zusammen. Sie werden ihn mögen, und es wird Ihnen gefallen, was er zu sagen hat.«
Die eben noch feuchten Augen waren wieder klar. Sie zuckte mit den Achseln. »Okay.«
»Wann haben Sie Feierabend?«
»Um halb fünf.«
»Unser Büro liegt in der Connectitut Avenue, fünfzehn Minuten von hier. Mr Carter wird dort auf Sie warten. Sie haben ja meine Karte.«
Sie warf einen Blick auf die Visitenkarte.
»Noch etwas sehr Wichtiges«, fügte Rodney leise hinzu. »Das Ganze funktioniert nur, wenn Sie Stillschweigen bewahren. Es muss geheim bleiben. Wenn Sie tun, was Mr Carter Ihnen rät, haben Sie bald mehr Geld, als Sie sich je erträumt haben. Wenn Sie reden, gehen Sie leer aus.«
Adelfa nickte.
»Und Sie müssen sich über einen Umzug Gedanken machen.«
»Umzug?«
»Ja. In eine andere Wohnung in einer anderen Stadt. Wo niemand Sie kennt und niemand weiß, dass Sie viel Geld haben. Eine hübsche Wohnung in einer hübschen Straße, wo die Kinder auf dem Gehsteig Fahrrad fahren können, wo es keine Dealer, keine Gangs und keine Metalldetektoren in den Schulen gibt. Keine schwarzen Brüder, die Ihr Geld wollen. Nehmen Sie diesen Rat von einem an, der aufgewachsen ist wie Sie. Ziehen Sie um. Verlassen Sie diese Stadt. Wenn Sie das Geld mit nach Lincoln Towers nehmen, wird man Sie bei lebendigem Leib auffressen.«
Bei seinem Beutezug im OPD hatte Clay Miss Glick abgeworben, die fleißige Sekretärin, die bei der Aussicht auf eine Gehaltsverdoppelung nur leicht gezögert hatte, seine alte Freundin Paulette Tullos, die zwar durch ihren abwesenden griechischen Gatten gut versorgt war, sich aber dennoch die Chance nicht entgehen ließ, statt vierzigtausend Dollar im Jahr zweihunderttausend zu verdienen, und nicht zuletzt Rodney. Diesem Kahlschlag waren zwei dringende, wenngleich unbeantwortet gebliebene Anrufe von Glenda gefolgt sowie eine ganze Serie unmissverständlicher E-Mails, die er ebenfalls ignorierte, zumindest im Augenblick. Clay nahm sich vor, Glenda demnächst aufzusuchen und ihr irgendeine lahme Ausrede zu präsentieren, warum er ihr gute Leute entführt hatte.
Als Gegengewicht für die guten Leute hatte er seinen Mitbewohner Jonah engagiert. Jonah hatte zwar beim fünften Anlauf die Zulassung als Anwalt erlangt, jedoch nie als solcher gearbeitet. Gleichwohl war er ein Freund und Vertrauter, der, wie Clay hoffte, vielleicht doch noch irgendwann juristisches Geschick entwickelte. Jonah hatte ein loses Mundwerk und trank gern, deshalb war Clay bei der Beschreibung seiner neuen Kanzlei und ihrer Aufgaben ziemlich vage geblieben. Er hatte vor, Jonah nach und nach einzuweihen, wollte aber zunächst langsam anfangen. Doch Jonah hatte das Geld irgendwie gewittert und ein Anfangsgehalt von neunzigtausend Dollar im Jahr ausgehandelt. Es war geringer als das des Leitenden Anwaltsassistenten, wobei die Kanzleimitarbeiter nicht
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