Die Schuldlosen (German Edition)
eingetroffen waren, verzichtete der Arzt darauf, einen Polizisten, den er seit Jahren kannte, bloßzustellen. Aus der Wunde Rückschlüsse auf den verursachenden Gegenstand zu ziehen sei Aufgabe von forensisch geschulten Fachleuten, sagte er nur.
Einer der Sanitäter hatte weniger Hemmungen. Er zeigte Kuhn zwar keinen Vogel, erklärte jedoch, dass man sich bei einem Sturz an den Hähnen höchstens die Kopfschwarte aufreißen und am Wassereinlauf eher das Genick als den Schädel brechen würde. Und man würde keinesfalls der Länge nach in die Wanne fallen und auf dem Rücken landen, schon gar nicht mit über Kreuz gelegten Armen. Das hatte einiges für sich. Nur gehörte ein Sanitäter nicht zu den forensisch geschulten Fachleuten, was er sich umgehend von den Neuankömmlingen anhören musste.
Daraufhin meldete der Notarzt sich noch einmal zu Wort mit dem Hinweis, dass Heike Jentsch die massive Verletzung auf der rechten Schädelseite nicht lange überlebt hätte. Wenn sie nicht sofort tot gewesen war, dürfte sie umgehend das Bewusstsein verloren haben und binnen kürzester Zeit verstorben sein.
Danach musste noch geraume Zeit Wasser gelaufen sein und alles Blut weggespült haben. Und bei zwei Kopfwunden von diesem Ausmaß musste es eine beträchtliche Menge Blut gewesen sein. Deshalb lautete die für den KDD vorerst wichtigste Frage, die sie von unwahrscheinlichen und wahrscheinlichen Theorien ablenkte: Wer hat das Wasser abgedreht?
Ein Liebhaber, der ahnungslos im Wohnzimmer gesessen oder im Bett gewartet hatte, bis es im Bad polterte? Es musste ordentlich gerumst haben bei einer Frau von schätzungsweise achtzig Kilo. Und nach einem ungebetenen Gast, der sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte, sah es in der Wohnung wahrhaftig nicht aus. Es gab keine Kampfspuren oder Abwehrverletzungen an der Leiche. Kein Tröpfchen Blut auf einem der Fußböden, an einer Wand oder einem Möbelstück.
Aber bot man einem lieben Gast nicht etwas zu trinken an, wenn man ihn warten ließ, weil man noch duschen wollte? Hätte nicht irgendwo ein Glas stehen oder das Bett – falls er schon dringelegen hätte – benutzter aussehen müssen? Hatte der Besucher abgespült oder das Laken glatt gestrichen, ehe er ging, weil er vor Scherereien zurückschreckte? Womöglich ein verheirateter Mann, der für ein verpatztes Schäferstündchen nicht seine Ehe aufs Spiel setzen wollte?
Oder hatte Heike sich arglos auf eine Liebesnacht vorbereiten wollen, und der vermeintlich liebe Gast hatte sie erschlagen, weil sie mehr von ihm verlangte, als er zu geben bereit war? Warum lagen dann keine Kleidungsstücke herum, nicht mal ein Damenslip im Bad? Den wegzuräumen hätte ein Mörder keine Veranlassung gehabt, im Gegenteil. Wenn es aussehen sollte, als sei Heike allein gewesen, hätte er ihre Sachen liegen lassen müssen.
Hatte Heike, ehe sie in die Wanne stieg, ihre Unterwäsche noch selbst in die Waschmaschine gestopft, zusammen mit dem T-Shirt und den Strümpfen, die sie tagsüber getragen hatte? Und die Jeans zurück in den Kleiderschrank gehängt? Ablageflächen oder Möglichkeiten, etwas auf-, beziehungsweise drüberzuhängen, gab es im Schlafzimmer nicht.
Aufschlussreich waren in dem Zusammenhang die Angaben der älteren Dame mit dem krakeelenden Wellensittich, die Bernd Leunen als Erste befragt hatte, weil sie gleich nebenan wohnte. Rita Zumhöfer hieß sie und wusste genauso gut wie Gerhild Jentsch, dass Heike in der Regel gegen einundzwanzig Uhr ins Bett ging und vorher duschte. Es war bei den dünnen Wänden gut zu hören. Und nach neun Uhr hörte man normalerweise nichts mehr von nebenan.
Am vergangenen Abend war allerdings später noch mal ziemlich lange Wasser gelaufen. Rita Zumhöfer hatte bis kurz nach zehn vor ihrem Fernseher gesessen, war dann ins Bad gegangen und hatte es nebenan rauschen hören. Danach hatte sie im Bett noch ein Weilchen gelesen und das Rauschen sogar in ihrem Schlafzimmer gehört. Sie hatte schon erwogen, gegen die Wand zu klopfen, als es um zwanzig vor elf endlich aufhörte.
Ob anschließend jemand die Nachbarwohnung verlassen hatte, konnte Rita Zumhöfer nicht sagen. Sofort auf keinen Fall, weil sie den Aufzug nicht gehört hatte und sich nicht vorstellen konnte, dass jemand freiwillig zehn Stockwerke in einem schlecht beleuchteten Treppenhaus hinunterstieg. Wenn also jemand bei Heike gewesen war, müsse er viel später in den Aufzug gestiegen sein, als sie selbst längst fest geschlafen habe, meinte
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