Die Schuldlosen (German Edition)
Mutter leichter machen, ein Kind zu verlieren.
Das Entsetzen der beiden Jungs hielt sich in Grenzen. Sie hatten ihre Tante viel zu selten gesehen, als dass der Schrecken über Heikes unerwarteten Tod lange vorgehalten hätte. Schon bald überwog bei Max und Sascha die Sorge, auch noch den letzten Bus zu verpassen und den ganzen Tag im Laden aushelfen zu müssen, weil Oma nicht mehr auf die Beine kam und Mama irgendwie neben sich stand.
Da hatte Saskia es entschieden besser. In der Küche allein gelassen, schnappte sie die Dose mit ihrem halben Pausenbrötchen und den beiden Apfelvierteln, huschte in den Hausflur und die Treppe hinauf. Kurz darauf zog sie bereits die Haustür von außen hinter sich zu.
Das mit dem regelmäßigen Fahrdienst zur Schule hatte sich schon mit Wochenbeginn wieder erledigt. Papa hatte es vorausgesagt. «Das machen die nicht lange, Süße. Dafür haben die gar keine Zeit. Wir beide müssen nur durchhalten und so tun, als würden wir uns nicht mehr sehen, dann schläft das bald wieder ein. Ich warte morgens bei der Sakristei auf dich. Wenn du nicht kommen kannst, weil dich einer fährt, gehe ich eben wieder nach Hause und hole dich mittags ab.»
So waren sie am Montag-, Dienstag- und Mittwochmorgen wieder über den Friedhof und durch die verwinkelten Gassen im alten Ortskern gegangen. Auf dem Friedhof bestand nicht mal die Gefahr, dass sie auffielen. Um die frühe Stunde hielt sich sonst noch keine Menschenseele zwischen den Gräbern auf.
Und die Strecke durchs Dorf hatte den Vorteil, dass bei den alten Häusern die Küchen meist zum Hof hin lagen. An der Straße lagen die Wohnzimmer, hatte Papa erzählt. Da hatten früher, als es noch keine Fernseher gab, die alten Leute gesessen und beobachtet, wer draußen vorbeiging. Aber erst abends, morgens waren alle in der Küche. Natürlich mussten sie trotzdem aufpassen, und gerade das gefiel Saskia. Es hatte den Reiz des Verbotenen, machte den Schulweg mit Papa zu einem Abenteuer.
Auch an dem Donnerstag wartete er bei der Sakristei. Und er sah an ihrer Nasenspitze, dass etwas nicht stimmte. Wie üblich ging er in die Hocke, umfing sie mit beiden Armen, ließ sich den Gutenmorgenkuss geben und küsste sie seinerseits auf die Wange, ehe er sich erkundigte: «Alles in Ordnung, Süße? Du siehst aus, als hättest du dich geärgert. Es hat doch hoffentlich keine Probleme gegeben?»
«Tante Gerhild hat gesagt, ich wäre in Heikes Bauch gewachsen», begann Saskia mit dem Teil der Hiobsbotschaft, der sie in ihren Grundfesten erschüttert hatte. «Sie hat mich richtig angebrüllt und gesagt, ich soll mit dem Blödsinn aufhören. Das wäre ein Märchen für kleine Kinder gewesen.»
«Angebrüllt?», wiederholte er. «Welche Laus ist Tante Gerhild denn über die Leber gelaufen? Oder ist sie heute Morgen mit dem linken Bein zuerst aufgestanden?»
«Ich glaube, sie war sehr traurig», kam Saskia zum Kern der Aufregung. «Onkel Wolfgang war auch sehr traurig. Er hat sogar geweint, weil Heike gestorben ist.»
Saskia war noch zu sehr mit ihrem Widerwillen beschäftigt, um darauf zu achten, wie er auf diese Nachricht reagierte. Ihr fiel nicht einmal auf, dass er ihre Hand etwas fester packte. «Ich bin doch nicht wirklich in ihrem Bauch gewachsen, oder?»
Sie war überzeugt, dass er entrüstet sagte: Natürlich nicht, Süße. Oder sonst etwas in der Art. Sonst wäre er ja ein Lügner. Und nicht nur er, Silvie und Max hätten auch gelogen.
Aber er seufzte nur komisch, drückte ihre Hand so fest, dass es richtig wehtat, und sagte: «Doch, Süße, das bist du. Im Brutkasten warst du nur ein paar Wochen, die restliche Zeit in Heikes Bauch. Sie ist deine Mama, das ist leider so. Deshalb konnte ich bisher nichts unternehmen, um dich zurückzubekommen. Jetzt sieht das wohl anders aus.»
Und dann erzählte er ihr die ganze, wahre Geschichte. Dass er einige Jahre mit Heike in einer kleinen Wohnung gelebt und mit ihr im Kaffeebüdchen gearbeitet hatte. Dass er Heike sehr lieb hatte und sie gerne geheiratet hätte, als feststand, dass in ihrem Bauch Saskia heranwuchs. Aber bei all der Arbeit im Büdchen war leider nie die Zeit für eine Hochzeit gewesen, auch nicht, als in Heikes Bauch noch ein Brüderchen für Saskia wuchs.
Bis dahin war Saskia schockiert, maßlos enttäuscht, immer noch angeekelt und sprachlos gewesen. Das Brüderchen nahm dem Ekel etwas von seiner Schärfe, dämpfte die Enttäuschung ein wenig, ließ ihre Phantasie Bocksprünge tun und gab
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