Die Schuldlosen (German Edition)
eiserne Heinrich war nach Mutters Tod in Depressionen und Demenz versunken, hatte nur noch mit Hilfe einer Pflegerin den Weg von seinem Schlafzimmer zur Küche gefunden. Weil die gute alte Frau Schmitz längst in Rente gegangen war, hatte die Pflegerin auch den Haushalt geführt, sich aber offenbar nur um Heinrichs Zimmer, sein Bad, ihr Zimmer, ihr Bad, das Fernsehzimmer und die Küche gekümmert.
Im Schlafzimmer seines Vaters lag der Staub nicht ganz so dick wie in anderen Räumen. Die Bettwäsche im Schrank war bloß an den Faltkanten dunkel geworden. Alex ärgerte sich, weil er nicht daran gedacht hatte, eine neue Garnitur Wäsche zu kaufen. Aber für eine Nacht würde es wohl gehen, ohne dass er sich die Krätze oder sonst etwas holte.
Er wischte und saugte gründlich, bearbeitete auch die Matratze in seinem Bett minutenlang von beiden Seiten mit dem alten Staubsauger, ehe er ein Laken darüberspannte. Außerdem klopfte er am offenen Fenster Kopfkissen und Daunendecke aus und bezog beides.
Dann ging er wieder nach unten, um endlich einen guten, starken Kaffee aufzubrühen und einen Happen in den Leib zu bekommen. Mittags hatte er nichts gegessen, obwohl es in Köln reichlich Auswahl gegeben hätte. Doch da war sein Magen wie zugeschnürt gewesen in Erwartung all der Dinge, die kommen konnten – und bisher ausgeblieben waren. Jetzt war er hungrig.
Der Kaffee, den er sich machte, war schwarz und klebrig wie die Sünde. Er rührte drei Löffel Zucker in jede Tasse, aß eine ganze Schachtel Kekse mit Schokoladenfüllung dazu und dachte an die Reistorte der Bäckerei Jentsch, die seine Mutter so geschätzt hatte. Und dann ärgerte er sich, weil er um das Blockhaus an der S-Bahn-Station einen so weiten Bogen gemacht hatte.
Er hätte Heikes Kaffeebüdchen einen Besuch abstatten, ein Hefeteilchen oder ein Plunderstück kaufen und sagen sollen: «Da staunst du, was? Ich bin wieder da. Viel früher als erwartet. Dass so ein Tag kommt, sollte einem eigentlich klar sein, ehe man bei der Polizei und vor Gericht das Maul aufreißt.»
Wahrscheinlich hätte dann bis zum Abend jeder in Garsdorf Bescheid gewusst. Und jeder, der die Lust dazu verspürte, hätte zu ihm herauspilgern, ihm die Fensterscheiben einwerfen oder die Hauswände beschmieren können. Heike hätte die ganze Nacht kein Auge zugetan, vermutlich bei jedem Geräusch in der Grevinger Wache angerufen. Vielleicht hätte sie auch persönlich dort vorgesprochen und darum gebeten, man möge ihn rund um die Uhr überwachen, wie man es anderswo mit entlassenen Sexualstraftätern tat. Weil sie dafür nicht genug Leute hatten, wäre vielleicht hin und wieder ein Streifenwagen vor der Villa aufgetaucht. Vielleicht hätten sie Heike aber auch erklärt, dass sie erst etwas unternehmen konnten, wenn etwas passiert war.
Einigermaßen satt, begab er sich erneut auf Rundgang, stöberte in Winkeln und Ecken, Kisten und Kästen, machte sich wieder vertraut mit dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Im Zimmer seiner Mutter lagen alte Zeitungen mit Berichten über den Leichenfund in der Greve und seine Festnahme. Auf der Truhe vor dem Bett saßen drei Puppen, mit denen zuerst seine verstorbene Schwester und später er gespielt hatte.
Ursprünglich waren es vier Puppen gewesen. Sein Vater hatte ihm mal bei einem Abendessen eine aus dem Arm gerissen und war damit hinausgestürmt zu dem Platz hinter der Garage, an dem das Kaminholz gehackt wurde. Ehe man sichs versah, lag die Puppe auf dem Hauklotz. Der eiserne Heinrich schwang das Beil und schlug ihr den Kopf ab, der über den Rasen kullerte.
Neben dem Klotz brach Mami in die Knie, grabschte nach dem Puppenkopf und jammerte: «Was tust du denn, um Himmels willen? Hast du den Verstand verloren?» Sie bekam gar nicht mit, wie Heinrich ihr Ersatzkind schnappte und dessen Kopf mit einem Griff im Nacken auf den Hauklotz drückte. Wäre Frau Schmitz nicht wie ein geölter Blitz aus der Küche geschossen und Heinrich in den Arm gefallen … Er war vier oder fünf gewesen, an sein genaues Alter erinnerte er sich nicht, an den Rest umso besser.
In vier staubdichten Schränken auf dem Dachboden hing und lag alles, wovon seine Mutter sich ebenfalls nicht hatte trennen können. Die komplette Garderobe aus dem letzten Lebensjahr der unersetzlichen Alexa sowie Männersachen von anno dazumal. Die hatten dem Bruder gehört, der laut dem eisernen Heinrich in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager verreckt war.
Mutter hatte mal behauptet,
Weitere Kostenlose Bücher