Die Schuldlosen (German Edition)
herumgetragen werden. Das traute Gottfried sich nicht mehr zu, er wollte sich nicht noch einen Bruch zu heben.
Der Kleine hatte ganz schön zugelegt, als zu dünn konnte man ihn wirklich nicht mehr bezeichnen. Martha hatte erst vor ein paar Tagen gewarnt: «Wenn ihr nicht aufpasst, geht der euch noch völlig aus dem Leim.» Das war maßlos übertrieben, aber man musste schon ein bisschen achtgeben, sollte ihn zwischendurch nicht immerzu mit Keksen und Schokolade füttern, weil er einem leidtat. Und bei den regulären Mahlzeiten musste man auf die Zusammensetzung achten. Deshalb dauerte es mit dem Kochen auch etwas länger als üblich. Franziska war unschlüssig gewesen, ob sie Blumenkohl oder Spinat machen sollte, hatte sich dann für Möhren entschieden.
Etwas gedünstetes Möhrengemüse mit einem Kartöffelchen und einem winzigen Stich Butter für David. Gottfried bekam die Kartoffeln gebraten und ein Kotelett dazu. Für sich briet Franziska zwei Eier. Und weil ihr der Kleine leidtat, bekam er von einem Ei das Gelbe. Aber das wollte er gar nicht. Er wollte überhaupt nicht essen, presste die Lippen fest aufeinander und warf das Köpfchen so heftig von rechts nach links, dass man befürchten sollte, er bekäme ein Schleudertrauma.
Und dann machte Franziska den Fehler zu sagen: «Na komm, nur ein bisschen. Du musst doch was essen, sonst tut dir gleich der Bauch weh. Ein Löffelchen für Mama …»
Da war es endgültig vorbei. «Mama», jammerte er und wollte sich gar nicht mehr beruhigen.
Er vermisste Silvie. Natürlich vermisste er seine Mutter, so wie deren Mutter früher die ihre vermisst hatte.
«Ja, ich weiß», sagte Franziska, strich ihm tröstend über die Wange, kämpfte selbst gegen die aufsteigenden Tränen an und versprach: «Wir besuchen deine Mama gleich. Aber nur, wenn du lieb bist. Na komm, sei lieb. Ein Löffelchen für Papa …»
«Papa», wiederholte er, stellte das herzzerreißende Weinen ein und schluchzte nur noch verhalten. «Papa.»
Gottfried hatte am Vormittag mindestens viermal gesagt, es hätte bestimmt sein Gutes, dass kleine Kinder so schnell vergaßen. Aber er fände das erschreckend und unheimlich.
«Papa kommt sicher bald», sagte Franziska. «Und dann freut er sich, wenn Oma ihm erzählt, dass du brav warst und alles aufgegessen hast. Jetzt iss schön.»
«Oma», plapperte er. Allzu groß war sein Wortschatz noch nicht. Dabei stand das Mäulchen normalerweise kaum still, Franziska verstand nur nicht viel von dem, was er erzählte.
Nach dem Essen hätte Gottfried gerne ein Nickerchen gemacht. David ließ sich nicht für ein Mittagsschläfchen hinlegen, obwohl er hundemüde sein musste. Er hatte die Windel voll, Franziska machte ihn sauber, was seine Zeit brauchte, weil er einfach nicht still liegen blieb. Danach ließ sie das schmutzige Geschirr in der Spüle stehen, sie hätte doch nicht in Ruhe abwaschen können, und sagte zu Gottfried. «Ich geh mal mit ihm zum Friedhof.»
Wohin hätte sie auch sonst gehen sollen an so einem Tag, wo Furcht ihr die Brust eng machte und ihr die eigenen Versäumnisse und die eigene Endlichkeit vor Augen hielt?
Sie packte den Knirps so warm ein, dass nur noch die kleine Nasenspitze und die großen Augen zwischen Mütze, Kapuze und Schal hervorlugten. Er hatte Silvies Augen, dieselben Augen wie Mariechen. Wieder kamen Franziska die Tränen. Sie schluckte sie energisch hinunter, schnäuzte sich, setzte David in den Buggy, öffnete die Haustür und stampfte los.
Und wie so oft, wenn sie diesen Weg ging, schweiften ihre Gedanken ab, verfingen sich in früheren Jahren. Diesmal blieben sie an dem Mittwoch hängen, an dem Ria spätabends mit dem Kinderwagenoberteil vor der Tür gestanden und sie Silvie das erste Mal im Arm gehalten hatte. Da war es auch so kalt gewesen. Aber geschneit hatte es nicht, nur gefroren.
Überall Raureif, sie sah noch deutlich vor sich, wie der Friedhof damals geglitzert hatte. Als hätte der Himmel ihn mit Diamantensplittern bestreut. Und über der wie mit einer Zuckerkruste überzogenen Buchsbaumhecke die beiden Gestalten vor dem pompösen Eckgrab der Familie Schopf. Helene Junggeburt und ihr jüngster Sohn in Strickröckchen und Strumpfhosen, den dicken Zopf mit einer Schmetterlingsspange zusammengehalten.
Wer hätte damals erwartet, wie Alex sich entwickelte? Und wer hätte erwartet, dass ein Tag käme, an dem man dem Himmel auf Knien dankte, dass es einen wie ihn gab?
Er hatte an dem Abend im November nur
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