Die Schuldlosen (German Edition)
halbe Keller nach Blumenwiese.
Diesmal schlief er ohne Unterbrechung, weil er den ganzen Tag wie ein Besessener geschuftet hatte und davon rechtschaffen müde war. Außerdem hatte er auf den Kaffee zum Abendessen verzichtet und stattdessen ein Bier getrunken.
Erst nach sieben Uhr morgens schreckte er aus einem Traum hoch, in dem Franziska Welter auf Knien in der Kinderecke vor dem Grab ihres Mariechens lag und mit beiden Händen in der Erde wühlte. Neben ihr plärrte sich ein kleines Mädchen die Seele aus dem Leib. Und er wusste, dass dieses Kind schrie, weil es seine Hilfe brauchte. Dieses Wissen und das Geschrei verfolgten ihn auch nach dem Aufwachen noch eine ganze Weile.
Ersatzkinder
Im Gegensatz zu denen, die sich nur die Mäuler zerrissen, war Franziska Welter im Dezember 1982 fest entschlossen, etwas für den kleinen Alexander zu tun. Der Junge hatte schließlich nicht nur eine offenkundig kranke Mutter und einen Vater, von dem Franziska nicht wusste, wie sie ihn beurteilen sollte. Er hatte auch einen erwachsenen Bruder.
Albert Junggeburt war seit zwei Jahren mit einer bildschönen Französin verheiratet und sollte bald selbst Vater werden. Er hatte am Stadtrand von Grevingen ein Grundstück erworben und ließ sich darauf eine Villa bauen. Weil er seiner Cecilia den Wahnsinn daheim nicht länger zumuten wolle, hieß es im Dorf.
Trotzdem hätte er seiner Mutter ins Gewissen reden können, meinte Franziska. Wenn der eiserne Heinrich sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht dazu aufraffen konnte, Helenes verrücktem Treiben ein Ende zu setzen, musste eben Albert etwas unternehmen. Seiner Mutter den Jungen notfalls wegnehmen und ihn im eigenen Haushalt aufwachsen lassen, sobald der eingerichtet war.
Gleich am nächsten Vormittag wollte sie zur Brauerei radeln und ein ernstes Wort mit Albert Junggeburt reden. Doch daraus wurde nichts. Und das hatte nichts mit Vergesslichkeit, Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit zu tun. Es lag an Ria.
Franziskas Sorgenkind hatte Anfang 1977 einen Bundeswehroffizier geheiratet. Gerd Appelt hieß er, doch wenn Ria von ihm sprach oder über ihn schrieb, nannte sie nie seinen Namen. Es hieß immer nur «Der General».
Zu der Zeit war Gerd Appelt erst Leutnant oder Anwärter auf so einen Posten. So genau erfuhr Franziska das gar nicht, trotzdem war er ihrem Mann ein Dorn im Auge. Gottfried hatte es nun mal nicht mit Uniformen, schon gar nicht mit höheren Rängen beim Militär. Vielleicht hatte Ria sich nur aus dem Grund für Gerd Appelt entschieden. Doch wie es schien, war der General der ideale Mann für sie. Er wurde oft versetzt, was Rias scheinbar angeborenem Fluchtreflex entgegenkam.
Als sie schwanger wurde, waren sie bereits fünfmal umgezogen. Kaum hatte sie eine Wohnung so eingerichtet, dass man anfangen konnte, sich darin heimisch zu fühlen, hieß es schon wieder packen. Die letzten Monate vor der Geburt verbrachten sie in England. Dort bekam Ria im August 1982 – fast pünktlich zum eigenen Geburtstag – in einem Militärhospital ein Mädchen, das sie Silvie nannte.
Franziska erhielt per Post zwei Fotos und ein paar Zeilen, aus denen nur hervorging, dass Ria sich eine derartige Tortur nie wieder antun wolle. Ein Besuch bei Tochter, Enkelin und Schwiegersohn war unmöglich. Gottfried wollte um keinen Preis der Welt an einen Ort, wo es von Soldaten nur so wimmelte. Und alleine traute Franziska sich nicht. Sie hätte sich in einem Hotel einquartieren müssen und den Nato-Stützpunkt, auf dem Ria und der General mit der kleinen Silvie in einer angeblich urgemütlichen Wohnung lebten, nur mit Sondergenehmigung betreten dürfen.
Im November schrieb Ria, es stünde wieder ein Umzug bevor, zurück nach Deutschland; Ramstein, für mindestens zwei Jahre. Da ergäbe sich bestimmt eher die Gelegenheit für einen Besuch. Ein genaues Datum für die Rückkehr nannte sie nicht. Sie kam an dem Mittwoch im Dezember 1982, der sich auch deswegen unauslöschlich in Franziskas Gedächtnis eingrub.
Es war schon nach zehn. Gottfried war bereits oben, putzte sich im Bad die Zähne und hörte das Klingeln an der Haustür nicht. Franziska war noch in der Küche, füllte Kaffee aus einem Vakuumpaket in die Vorratsdose um, stellte Tassen und Teller für das Frühstück am nächsten Morgen auf den Tisch. Das tat sie immer abends, dann war es morgens gleich viel gemütlicher, wenn man runterkam.
Sie ging in den Flur und fragte sich auf dem Weg zur Tür noch, wer das wohl
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