Die Schuldlosen (German Edition)
sein mochte um diese Zeit. Ihre Nichte war in letzter Zeit ein paarmal abends vorbeigekommen. Heike war zehn Jahre alt, stark übergewichtig und extrem kurzsichtig. In der Schule wurde sie gehänselt, und daheim hatte keiner die Zeit, sich ihre Nöte anzuhören. Also kam sie zu Franziska – aber nicht mehr so spät. Um zehn lag das Kind längst im Bett, dafür sorgte Martha.
Es könne nur jemand aus der Nachbarschaft sein, meinte Franziska. Vielleicht wieder Frau Steffens von nebenan. Letzte Woche hatte die zweimal gefragt, ob Franziska am nächsten Morgen den fünfjährigen Lothar zum Kindergarten bringen und eventuell auch mittags wieder abholen könne, weil sie selbst dringend zum Zahnarzt musste und keinen Termin hatte. Frau Steffens hatte ständig Probleme mit ihren Zähnen, fuhr aber nur zum Zahnarzt nach Grevingen, wenn sie vor Schmerzen schon halb wahnsinnig geworden war.
Franziska öffnete und hatte das Gefühl zu träumen. Ria! Eine Pelzjacke um die Schultern gelegt, eine Zigarette im Mundwinkel. In einer Hand die Tragegurte eines Kinderwagenoberteils. In der anderen Hand eine Reisetasche. Und auf den Lippen einen ihrer lockeren Sprüche. «Mach den Mund zu, bevor dir die Spucke gefriert, Mama, ich bin es wirklich.» Wegen der Zigarette klang es undeutlich, aber verstanden hatte Franziska jedes Wort.
Damit bekam sie auch schon das Kinderwagenoberteil mit ihrer Enkeltochter in die Hand gedrückt. Ria nahm die Zigarette aus dem Mund, stellte die Reisetasche im Hauseingang ab und sagte: «Ich dachte, du nimmst es bestimmt gerne für eine Weile.»
Es! Als wäre es ein Haustier, ein Sittich oder ein Hamster im Käfig, der beim Umzug nicht im Weg herumstehen sollte. Aus dem Kinderwagenoberteil schauten zwei dunkle Augen mit ernstem Blick zu Franziska auf. Die untere Gesichtshälfte verschwand fast komplett unter einem Schnuller.
«Ja, natürlich», stammelte sie. «Warum hast du nicht angerufen und Bescheid gesagt, dass du kommst? Dann hätte ich in deinem Zimmer die Heizung angedreht und dein Bett beziehen …»
«Hat sich nicht ergeben», schnitt Ria ihr das Wort ab, ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und verlangte: «Geh schon hinein, so warm ist es nicht eingepackt. Ich hole noch das Gestell aus dem Auto, dann suche ich mir einen Parkplatz und komme mit den restlichen Sachen nach.»
Beide Straßenränder waren wie üblich zugeparkt mit den Fahrzeugen der Anwohner. Gottfrieds Kadett stand unmittelbar vor dem Haus. Und mitten auf der Straße stand eine große, dunkle Limousine. Ein englisches Fabrikat. Ria ging zu diesem Wagen, holte das Unterteil vom Kinderwagen aus dem Kofferraum, stellte es zur Reisetasche, lief erneut zurück, stieg ein und fuhr los, ohne noch einen Blick auf Mutter und Kind zu werfen oder eine Hand zum Gruß zu heben. Aber warum hätte sie grüßen sollen, wenn sie nur um die Ecke fahren, einen Parkplatz suchen und mit den restlichen Sachen nachkommen wollte?
Franziska schob die Reisetasche mit einem Fuß weiter in den Hausflur hinein, ließ die Tür offen und brachte das Kinderwagenoberteil in die Küche. Warm eingepackt war Silvie tatsächlich nicht. Kein Mützchen auf dem Kopf. Am Leib nur ein dünnes Jäckchen und einen Strampler über der Windel. Eine Wolldecke war lose aufgelegt. Aber die Händchen waren warm. Im Auto war bestimmt die Heizung gelaufen.
So ein hübsches Baby. Diese dunklen Kulleraugen, dieselben Augen wie Mariechen, fand Franziska, nur der Blick war anders, irgendwie abwartend und skeptisch. «Ja, da guckst du», sagte sie. «Kennst mich doch noch gar nicht. Ich bin deine Oma.»
Sie nahm das Baby mitsamt der Decke auf und hatte sekundenlang das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Dann spürte sie, wie es in ihrer Brust ganz weit und warm wurde. So wie damals jedes Mal, wenn sie Mariechen gehalten hatte. Nach Rias Geburt hatte es solche Gefühle nicht mehr gegeben.
Sie ging zur Flurtür und rief nach Gottfried. «Komm mal runter und guck, wer hier ist!»
Ehe er sie im Bad endlich hörte, war es im Flur schon so kalt wie in einem Eiskeller. «Haben wir neuerdings eine Ölquelle im Garten?», schimpfte Gottfried, als er auf der Treppe erschien.
Dann sah er das Bündel in Franziskas Arm und wurde still.
«Guck, wer hier ist», wiederholte sie.
Er beugte sich über das kleine Gesicht mit dem Schnuller und musste dabei ein Tränchen wegblinzeln. «How do you do», sagte er, wusste auf Anhieb, wen er vor sich hatte.
«Sieht sie nicht aus wie
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