Die Schuldlosen (German Edition)
lange, da war er erneut durchnässt bis auf die Haut. Der schwere Jeansstoff saugte sich voll und pappte unangenehm kalt auf den Oberschenkeln. Und von den Hosenbeinen lief es ihm in die Schuhe.
Er näherte sich der Kirche auf den Schleichwegen im alten Ortskern. In den engen Gassen kannte er sich noch gut aus. Wie oft hatte er hier als Kind in dunklen Nischen Deckung gesucht und gewartet, bis einer vorbeikam, dem er eine Hänselei heimzahlen wollte. Lothar war weiß Gott nicht der Einzige gewesen, der damals Bekanntschaft mit seinen Fäusten gemacht hatte. Nur mit den Fäusten. Getreten, wie das heutzutage üblich war, hatte er nie. Getreten wurde nach Bällen, nicht nach Köpfen.
Und wenn’s drauf ankam – völlig aus der Übung war er nicht, im Gegenteil. Das Knastleben machte nur Weicheier kaputt, die Kämpfer stählte es. Er war ein Kämpfer gewesen – zumindest in den letzten drei Jahren wieder derselbe Kämpfer wie damals in der Grundschule, als er der ganzen Welt und sich selbst beweisen musste, dass er ein Junge war, auch wenn er stundenweise Mädchenkleider und Haarspangen trug. Wahrscheinlich konnte er es sogar mit einer mehrköpfigen Gruppe aufnehmen, die sich nur alle Jubeljahre mal eine Kneipenschlägerei gönnte.
Als er den Eingang zur Sakristei erreichte, schwammen die letzten Ängste davon. Es wartete niemand auf ihn. Er drückte sich eng in die Türnische. Von dort aus hatte er das Familiengrab gut im Blick, führte ein Zwiegespräch mit seiner Mutter, kündigte dem eisernen Heinrich eine Rollkur an und riet dem Rest der Belegschaft, lieber etwas Platz zu machen.
Dann fasste er sich in Geduld. Das lernte man auch im Knast. Man konnte ja nicht viel mehr tun als warten, dass die Zeit verging. Sechs Jahre! Sechs verflucht harte und bittere Jahre für Janice, diese Schlampe, die einfach keine Ruhe hatte geben wollen. Und er musste auch noch dankbar sein, dass er nicht die vollen neun Jahre hatte absitzen müssen.
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3. Teil
Saskia
Grevingen-Garsdorf, im Herbst 2010
Kurz vor drei tauchte ein Zwerg in einem gelben Regenmantel mit Kapuze zwischen den Gräberreihen auf. Gummistiefel an den Füßen, eine Plastiktüte mit ihrer Puppe an sich gedrückt, schaute Saskia sich suchend um. Als sie ihn entdeckte, huschte ein Lächeln über ihre Lippen.
So ein hübsches Kind, sah aus wie ein dralles Engelchen. Für seinen Geschmack war sie ein bisschen zu pummelig, aber kein Vergleich mit ihrer Mutter. Heike war früher fett gewesen, anders konnte man das nicht bezeichnen. Die Kreationen der väterlichen Backstube waren ihr gar nicht gut bekommen. Nilpferd und Blindekuh hatte man sie im städtischen Freibad einmal tituliert, weil sie zusätzlich zum Übergewicht eine starke Brille tragen musste und ohne das Ding so blind war wie ein Maulwurf.
In dem Sommer, ehe seine Schwägerin zum zweiten Mal schwanger wurde, hatte Cecilia ihn regelmäßig abgeholt und mit ins Freibad genommen. Damit er mal rauskam aus dem Kaff und andere Leute sah als solche, die ihn misstrauisch beäugten oder bei seinem Anblick sorgenvoll die Stirn runzelten. Reine Großherzigkeit oder Verantwortungsgefühl ihm gegenüber war das jedoch nicht gewesen, auch wenn sein Bruder es gerne so dargestellt hatte.
Cecilia war in dem Sommer achtundzwanzig, ihr Töchterchen – seine Nichte – Désirée noch keine zwei. Désirée war etwas jünger als Silvie. Und wie sollte eine attraktive, junge Frau mit Kleinkind sich in einer Kleinstadt wie Grevingen die Zeit vertreiben?
Cecilia ging schwimmen, sooft das Wetter es erlaubte. Und Désirée war noch zu klein, um unbeaufsichtigt im Planschbecken oder auf der Liegewiese zu sitzen. Aber wenn man einen Schwager hatte, der selbst noch ein Kind war, daheim mit Puppen spielte und liebevoll mit anderer Leute Kleinkindern umging …
Mami hatte Cecilia von den wenigen Minuten erzählt, in denen er Klein Silvie auf dem Rasen hinterm Haus mit der sprechenden Susi beschäftigt hatte. Wenn er dabei war, konnte Cecilia sich wie eine Nixe fühlen, auch mal mit dem Bademeister flirten.
Er sah noch vor sich, wie sie zum Sprungturm beim großen Becken schritt. Cecilia ging nie, sie schritt majestätisch über den Rasen wie eine Königin über den roten Teppich.
Er schaute ihr nach – bis sein Blick auf Heike Jentsch traf.
Was für ein Gegensatz!
Da stand dieses fette, plumpe Geschöpf an der Kante des Einmeterbretts. Bekleidet mit einem geblümten Badeanzug, der zwei Nummern zu
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