Die Schuldlosen (German Edition)
die behielt das für sich, um nicht die gesamte Familie in Aufruhr zu versetzen? Das hätte zu Heike gepasst. Damals hatte sie auch ihren Mund gehalten, bis es nicht mehr anders ging. War der Kurzurlaub in Holland in Wahrheit eine Flucht? Aber dann war ein verlängertes Wochenende doch keine Lösung.
Heike gab sich vollkommen ahnungslos. «Was denn, Alex war am Samstag schon wieder in Garsdorf?»
«Am Samstag soll er bei Silvie gewesen sein», gab Gerhild wieder, was sie gehört hatte. «In Garsdorf war er vermutlich schon ein oder zwei Tage vorher. Hat er sich nicht bei dir gemeldet?»
«Wo denkst du hin», mimte Heike weiter die Unwissende, «das hätte ich dir doch sofort gesagt.» Um mit den nächsten Worten eine mögliche Gefahr für sich weit von sich zu schieben. «Dann brauche ich mir wohl keine Sorgen zu machen. Wenn er mit mir abrechnen wollte, wäre er längst hier gewesen und hätte Kleinholz aus der Kühltheke gemacht.»
Das Argument hatte einiges für sich. Gerhild ließ sich davon beschwichtigen, nahm das Blech mit dem Kirschstreusel wieder an sich und fuhr zurück nach Garsdorf, um auch ihre Schwiegermutter zu beruhigen.
Um die Zeit hielt Alex seine Nervosität noch in Schach, indem er alte Fotoalben aus den Schränken kramte. Da seine Mutter nie etwas Erinnerungsträchtiges weggeworfen hatte, kam ein großer Stapel zusammen. Das älteste Album enthielt noch Fotos von den Großeltern, die er nie kennengelernt hatte. Auf einem hielt die Großmutter ein Baby auf dem Schoß, ob es sich um den tapferen Krieger oder die verrückte Helene handelte, war nicht zu erkennen. Es waren auf jeden Fall Fotos von früher. Mit anderen konnte er auch nicht dienen.
Er trug die Alben ins Fernsehzimmer, arrangierte Pralinen und Kekse in Kristallschalen auf dem Tisch, drehte die Heizung höher und legte sicherheitshalber noch eine Decke aufs Sofa. Frieren sollte Saskia auf gar keinen Fall.
Janice hatte oft gefroren auf der schmuddeligen Couch in der Gartenlaube. In der Greve hatte sie wahrscheinlich noch ärger gefroren. Im April war das Wasser doch saukalt. Plötzlich hallte ihm ihre Stimme durch den Kopf wie eine der großen Kirchenglocken: «Hör auf! Lass mich los! Du sollst mich loslassen! Ich will das nicht! Jetzt nicht mehr! Hilfe! Warum hilft mir denn keiner?» Verdammte Erinnerungen! Er wurde Janice nicht los. Aber sie hielt ihn auch nicht auf.
Um halb zwei stieg er auf den Dachboden, um die Wachstuchjacke zu holen. Im selben Schrank hing ein blauer Regenmantel mit Kapuze in Kindergröße. Darin war er früher einmal zur Grundschule gelaufen, nur ein einziges Mal. Das wusste er auch noch, als wäre es gestern gewesen. Schlumpfinchen hatte Lothar auf dem Schulhof hinter ihm hergerufen und Prügel dafür bezogen wie für so viele andere Ausdrücke, mit denen er ihn als Kind bedacht hatte.
Komisch, dass sie dann trotzdem so gute Freunde geworden und all die Jahre geblieben waren. Trotz der Monate mit Silvie und der Sache mit Janice. Ihm klang noch im Ohr, wie Lothar gerufen hatte: «Hör auf! Lass sie los! Alex, um Gottes willen, was tust du da? Lass sie los, du bringst sie ja um.»
Und kurz darauf hatte Lothar erklärt: «Er ist mein bester Freund. Ich kann nicht gegen ihn aussagen. Das kann ich wirklich nicht. Muss ich auch nicht, solange kein Polizist erfährt, dass ich ihn überrascht habe, wie er Janice ins Wasser drückte. Ich bin von der Linde aus nach Hause gegangen. Punkt und Schluss. Etwas anderes kann mir niemand beweisen.»
Den Schlumpfinchen-Regenmantel nahm er ebenfalls mit nach unten. Wenn Saskia kam, mussten sie an unzähligen Fenstern vorbei, und falls zufällig jemand nach draußen schaute, Saskias Anorak erkannte und sich fragte, mit wem die Kleine unterwegs war …
Die Stunden an der Heizung hatten am Zustand seiner Schuhe nicht viel geändert. Er zog sie trotzdem wieder an und machte sich, von unterschwelligen Ängsten und zwiespältigen Erinnerungen geplagt, auf den Weg ins Dorf.
Auf Höhe des Heckler-Hauses wurde er automatisch schneller und zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern, als er es wegen des Wetters ohnehin tat. Das türkisfarbene Mädchenrad war nicht zu sehen. Es kam auch keiner raus, um ihn zu verprügeln. Dann war er vorbei und kämpfte nur noch gegen Sturm und Regen.
Die Wetterjacke brachte nicht viel, schützte zwar den Oberkörper von außen, aber vom Kragen aus rann ihm das Wasser in den Nacken, den Rücken und die Brust hinunter. Es dauerte nicht
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