Die Schuldlosen (German Edition)
klein schien und sie umschloss wie ein Stück Naturdarm eine pralle Knackwurst.
Heike war damals zwölf Jahre alt, wirkte ob ihrer Statur jedoch mindestens drei Jahre älter. Sie traute sich nicht ins Wasser. Dabei konnte sie schwimmen, sah ohne ihre Brille nur nicht, wohin sie springen könnte.
Unter ihr tobte eine johlende Menge. «Trau dich, Blindekuh!», rief einer so laut, dass es über die Liegewiese schallte. Ein anderer grölte: «Eh, macht mal Platz für das Nilpferd.» Und ein Dritter prophezeite: «Wenn die wirklich springt, ist das Becken leer.»
Dann hatte die göttliche Cecilia den Beckenrand erreicht und sorgte mit ein paar energischen Worten dafür, dass tatsächlich Platz gemacht wurde. Aber Heike wollte nicht mehr, trat von der Kante zurück, drehte sich um, stieg die kurze Leiter wieder hinunter und trottete zurück zu ihrem Badetuch.
Sie kam so nahe an ihm und der kleinen Désirée vorbei, dass sie auf das krokodilähnliche Gummitier trat, mit dem seine Nichte spielte. Das Tier quietschte laut, was Heike aber kaum registrierte. In ihrem Gesicht zuckten drei Dutzend Muskeln im Bemühen, die Tränen der Schmach zurückzuhalten.
Diesen Ausdruck hatte er nie vergessen. Es war seine erste Erinnerung an Saskias Mutter. Später hatte er Heike häufig hinter der Kuchentheke im elterlichen Laden gesehen. Ein immer noch viel zu dickes, nervöses junges Mädchen mit schlechten Zähnen und Pickeln im Gesicht, das die Preise nicht im Kopf hatte und bei jedem Teil nachfragen musste: «Mama, was kosten die Kirschplunder? Mama, was kosten die Apfeltaschen? Mama, was kosten die Schweineöhrchen? Mama, was kostet eine halbe Reistorte?»
Na, halb so viel wie eine ganze.
Die Reistorte war ein Gedicht, Mami war süchtig danach, gönnte sich die Köstlichkeit aber nur sonntags zum Nachmittagskaffee. Sonntags hatte Frau Schmitz immer den halben Tag frei und ging um halb eins, nachdem sie das Mittagessen aufgetragen hatte. Deshalb musste er schlingen und dann für Mami springen, weil die Bäckerei Jentsch sonntags nur von elf bis um zwei geöffnet war.
Solange Heike zur Schule gegangen war, hatte sie bei Hochbetrieb am Nachmittag sowie samstags und sonntags einspringen müssen. Später hatte sie von frühmorgens bis abends im Laden gestanden. Erst mit fünfundzwanzig hatte sie sich der heimischen Knechtschaft entzogen, einen Vorschuss auf ihr Erbe verlangt, einen Teil des Geldes zum Zahnarzt getragen, die Brille gegen Kontaktlinsen getauscht und das Blockhaus an der S-Bahn-Station übernommen.
Zu der Zeit war er aus dem Internat zurückgekommen und brauchte sich dank Mamis Vorsorge für seine Zukunft nicht um eine Ausbildung oder einen Job zu bemühen. Nur den Wehrdienst musste er noch ableisten. Als er in die Kaserne einrückte, war Heike gerade mit den Umbauten und der aufwendigen Renovierung der ehemaligen Imbissbude fertig und feierte die Eröffnung mit Sonderangeboten, denen kein S-Bahn-Nutzer widerstehen konnte.
Er war in Gerolstein stationiert. Mit dem Audi wäre das ein Katzensprung gewesen. Aber Mami duldete nicht, dass er mit dem Wagen zur Kaserne fuhr. Das Auto war für sein Freizeitvergnügen gedacht. Als ob er sich in seiner Freizeit nicht den Hals brechen und noch ein paar andere mit in den Tod hätte reißen können.
Es hatte keinen Zweck, mit seiner Mutter zu diskutieren, welche ihrer Verbote oder Anweisungen sinnvoll waren und welche nicht. Ihrer kruden Argumentation konnte er nichts entgegensetzen. Er war jedenfalls dazu verdammt, die Bahn zu nehmen. Und wenn er freitags heimkam, kehrte er regelmäßig in Heikes Kaffeebüdchen ein, vertrieb sich die zwanzig Minuten bis zur Abfahrt des Busses nach Garsdorf mit einem guten Kaffee, einer Apfeltasche, einem Schweineöhrchen, einem Plunderteilchen oder was sonst noch von der mittäglichen Lieferung übrig war.
Natürlich hätte er auch ein Taxi nehmen und zu Hause einen Kaffee trinken können – ohne Kuchen. Aber es war nicht das Kleingebäck, das ihn in die Blockhütte lockte. Es war nur die Vermutung, dass die Frau hinter der Kühltheke genauso gut wie er wusste, wie man sich in der Außenseiterrolle fühlte.
Er sah doch immer noch die aufgewühlte Miene vor sich, mit der Heike als Zwölfjährige im Grevinger Freibad auf Désirées krokodilähnliches Gummitier getreten war. Auf diesen Ausdruck hatte er gewartet im Saal der großen Strafkammer, als Heike im Zeugenstand saß und Frau Doktor Brand von ihr wissen wollte, warum sie diese Aussage
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