Die Schuldlosen (German Edition)
erst so spät gemacht habe. Und Heike antwortete: «Ich hatte Angst. Jetzt schäme ich mich dafür.»
Nein! Wenn Heike sich schämte, sah sie anders aus.
Er schüttelte die Erinnerungen ab wie ein Hund den Regen und erwiderte das Lächeln des Kindes. «Hey, Süße. Toll, dass du sogar bei dem Wetter kommst. Ich hatte fast nicht damit gerechnet.»
«Das bisschen Regen», spielte Saskia den anhaltenden Wolkenbruch herunter. «Ich bin doch nicht aus Zucker.»
Aber genauso süß, dachte er und sagte: «Dann hast du sicher nichts gegen einen Spaziergang einzuwenden. Mein Auto ist leider noch in der Werkstatt. Ich habe einen extra Regenmantel für dich mitgebracht. Wenn du den drüberziehst, wirst du bestimmt nicht nass.»
Das war sie schon, zumindest an den Beinen, die der gelbe Mantel nur halb bedeckte. Sie trug ebenfalls eine Jeans, die sie unten in die Gummistiefel gesteckt hatte. Auf dem kurzen Stück von der Bäckerei über den Vorplatz der Kirche bis zur Sakristei hatte sich der Stoff unterhalb der Knie schon dunkel gefärbt. Bis zur Villa Schopf würde ihr das Wasser vermutlich in den Stiefeln stehen.
Der blaue Regenmantel war länger als der ihre. Leider war er ihr zu eng. Deshalb klappte es nicht so mit dem Tarnumhang, wie er sich das vorgestellt hatte. Er rollte Schlumpfinchen wieder zusammen und klemmte sich das Teil erneut unter den Arm.
Während er Saskia zwischen den Gräberreihen zum Ausgang bei der alten Schmiede lotste, stellte er einige Fragen. Vor allem interessierte ihn, ob sie jemandem verraten hatte, wohin sie tatsächlich gehen und wen sie treffen wollte. Oder ob man sie wegen ihrer neuen Freundin ins Kreuzverhör genommen habe. Aber es sah nicht danach aus, dass er sich Sorgen machen müsste.
Die beiden Jungs und die Männer hatten Besseres zu tun, als ein Kind nach seinem Zeitvertreib für den Nachmittag zu fragen. Gerhild war nach dem Mittagessen noch einmal nach Grevingen gefahren, um Heike die zuvor vergessenen Plunderteilchen zu liefern. Sie war noch nicht zurück gewesen, als Saskia das Haus verlassen hatte. Die Einzige, bei der Saskia ihre neue Freundin Melanie angeführt hatte, war ihre Großmutter. Und Martha hatte – nach der Hiobsbotschaft und mit drei Kundinnen allein im Laden – nur gesagt: «Um sechs bist du wieder hier.» Sich nach einer Adresse oder Melanies Familiennamen zu erkundigen war ihr nicht in den Sinn gekommen.
Als sie den Friedhof verließen, war Alex beruhigt und zufrieden. Mit gesenktem Kopf trottete Saskia neben ihm durch die engen Gassen, vorbei an windschiefen Fachwerkhäusern, von denen nur noch zwei bewohnt waren. Drei weitere standen zum Verkauf und waren damit dem Verfall anheimgegeben, weil niemand sie haben wollte.
Saskia plapperte in einem fort und erinnerte ihn irgendwie an Silvie. Dabei war sie wohl nur froh, dass ihr mal jemand länger als zwei Minuten am Stück zuhörte. Zuerst erzählte sie von ihrer früheren Freundin Tanja Breuer, mit der sie diesen Teil des Dorfes einmal hatte erkunden wollen. «Aber da war es schon dunkel, das war unheimlich.»
Darüber kam sie auf das Schlossgespenst Hui Buh. Die CD hatte sie von Tanja Breuer zum Geburtstag geschenkt bekommen. Kurz darauf war die Freundschaft zerbrochen – vielmehr von Oma verboten worden –, weil Tanjas Mutter gesagt hatte, Heike habe Saskia nach einem Drama damals bei Gerhild abgeliefert.
Alex hatte Heikes Blinddarmentzündung noch nicht vergessen. Doch ihm kam nicht der Gedanke, dass Saskia auf gar nicht mal so naive Weise versuchte, ihm die Information zu entlocken, wie Heike sich sein Kind hatte beschaffen können.
Darüber hatte Saskia seit dem Morgen so viel nachgedacht, dass sie im Unterricht ein paarmal ermahnt worden war. Aber es hatte sich gelohnt. Die Theorie, die sie mit ihrem neuen Kenntnisstand entwickelt hatte, war gar nicht so abwegig.
Manchmal wurden Babys aus Krankenhäusern geklaut. Das hatte sie mal im Fernsehen gesehen. Da hatten viele Polizisten nach einem verschwundenen Baby gesucht. Die weinende Mutter hatte gebettelt, die Entführer sollten ihrem Kind nicht wehtun und es schnell zurückgeben, weil es noch so klein und sehr krank war. Viele Leute, die zur fraglichen Zeit im Krankenhaus gewesen waren, wurden von der Polizei gefragt, ob sie etwas gesehen oder gehört hätten. Die Polizisten besuchten auch einige Frauen zu Hause. Bei einer machten sie eine Hausdurchsuchung. Und da fanden sie das Baby unter Handtüchern in einem Wäschekorb. Leider war es
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