Die Schuldlosen (German Edition)
sie ihm das verraten durfte. Schließlich hatte Saskia seit Jahren eine komplette Familie mit Oma, Opa, Tante Gerhild, Onkel Wolfgang, Max und Sascha.
«Wie gefällt es dir denn bei denen?», wollte er wissen. «Sind alle nett zu dir?»
Saskia nickte erneut, was seine erste Frage offenließ. Die hätte sie auch nicht so ohne weiteres beantworten können. Es gefiel ihr längst nicht jeden Tag gleich gut. Aber ohne Ausweichmöglichkeit hatte sie noch nie über eine Veränderung nachgedacht.
«Heike auch?», bohrte er weiter. «Wie nennst du sie eigentlich? Sagst du Mama zu ihr?»
Da blieb ihr schon wieder eine Antwort erspart. «Ich sag doch nicht Mama zu Heike.» Das klang beinahe entrüstet. «Ich sag nur Heike.»
«Reicht ja auch», fand er. «Wie geht’s ihr denn heute so?»
Da sich Saskias Kontakt zu ihrer Mutter in der Regel aufs Kaffeebüdchen beschränkte, wusste sie das nicht genau. Sie war seit zwei Wochen nicht mehr mit nach Grevingen genommen worden. Wenn Heike in aller Herrgottsfrühe die Brötchen abholte, schlief sie noch. Abends oder sonntags kam Heike nur selten nach Garsdorf. Hin und wieder wurde natürlich über sie gesprochen. Wie viele Brötchen sie verkaufte und wie viel Kleingebäck. Dass sie immer noch fast dieselben Preise zahlte wie vor Jahren und dass es höchste Zeit wurde, sich mal mit ihr zusammenzusetzen und über neue Konditionen zu sprechen.
Das Letzte, was Saskia mittags dem Disput zwischen Tante und Großmutter entnommen hatte, war, dass Heike sich urlaubsreif fühlte und am Donnerstagabend nach Holland fahren wollte, womit Oma aber nicht einverstanden war. Den aufschlussreichen Dialog gab Saskia beinahe wörtlich wieder.
Alex wollte daraufhin wissen: «Hat Heike denn einen Freund?»
«Nein», antwortete Saskia im Brustton der Überzeugung. «Dafür hat sie gar keine Zeit. Und sie hat mal gesagt, von Freunden hat sie die Schnauze voll. Wenn man denen einen kleinen Finger hinhält, ist man seinen Arm los.»
«Aha», sagte Alex, damit war das Thema für ihn abgehakt. Auch wenn Martha Jentsch offenbar etwas anderes vermutete, er sah es so, wie Gerhild es im ersten Moment gesehen hatte: Dass Heike sich wegen seiner vorzeitigen Haftentlassung spontan zu diesem Kurzurlaub entschlossen hatte. Aber nur übers Wochenende? Glaubte sie etwa, danach säße er wieder im Knast? Wenn sie sich da mal nicht täuschte.
Sie erreichten die Breitegasse. Der Regen fiel unverändert in so dichten Fäden, dass er die Sicht begrenzte wie eine Nebelwand. Nachdem sie am Heckler-Haus vorbei waren, wurde Saskia merklich langsamer, schaute die Gartenkolonie mit den kleinen Lauben entlang und erkundigte sich mit hörbarem Unbehagen: «Wo wohnst du denn? Hier sind doch gar keine richtigen Häuser mehr.»
«Doch, meins.» Er zeigte mit ausgestrecktem Arm nach vorne. «Dahinten, siehst du?»
Saskia blieb stehen, spähte angestrengt in die gezeigte Richtung und schüttelte nach ein paar Sekunden den Kopf.
«Na komm», lockte er. «Es ist nicht mehr weit, wirklich nicht. Bald sind wir im Trockenen. Dann kriegst du einen heißen Kakao, damit dir wieder warm wird. Und dann sehen wir uns die Fotos von früher an.»
Sie setzte sich wieder in Bewegung, folgte ihm aber nur noch widerstrebend und misstrauisch, wie ihm schien. Erst als sich die Villa aus dem Dunst schälte, wurde sie wieder etwas schneller. Am Ziel angekommen, stellte sie wie der indische Taxifahrer fest: «Das ist aber ein sehr großes Haus.»
«Ja», stimmte er zu. «Für mich allein ist es eigentlich viel zu groß. Aber ein kleineres habe ich in der kurzen Zeit nicht gefunden.» Dann wollte er wissen, ob sie sich vorstellen könne, hier mit ihm zu wohnen. Und wieder ersparte er ihr die Antwort, zählte gleich einige Vorteile auf.
Er hätte entschieden mehr Zeit für sie als Familie Jentsch. Er würde sie jeden Morgen zur Schule bringen und dafür sorgen, dass sie nicht mit Kakaobart und Marmeladenschnute im Unterricht saß. Er würde sie mittags auch wieder abholen, nachmittags die Hausaufgaben mit ihr machen und mit ihr spielen oder sie zu einer Freundin bringen. Sie könnte auch Freundinnen einladen. Abends würde er ihr Geschichten vorlesen. Sie würden zusammen einkaufen und gemeinsam überlegen, was gekocht wurde. Und sonntags könnten sie Ausflüge machen, ins Spieleland, den Märchenwald oder den Zoo.
In dem Moment bekam Saskia Angst, dass er sie nicht wieder zurückgehen ließ. Dass sie den Heimweg alleine fand, bezweifelte sie.
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