Die Schuldlosen (German Edition)
und verabschiedete sich mit der Drohung: «Dann frag ich ihn eben selber.»
Ihr Abgang lag Alex noch eine ganze Weile schwer im Magen. So schwer, dass er darauf verzichtete, zu Mittag die obligatorische Pizza in den Backofen zu schieben. Stattdessen trank er den Kaffee, aß zwei Biskuits dazu und grübelte, ob er es unter diesen Voraussetzungen riskieren konnte, die Verabredung mit Saskia einzuhalten.
Eher nicht. Es war damit zu rechnen, dass Lothar im Laufe des Nachmittags bei ihm auftauchte, um ihn zur Rede zu stellen. Was fällt dir ein, Silvie so einen Blödsinn zu erzählen? Wie kommst du auf so etwas?
Andererseits: Er konnte Saskia doch nicht vergebens warten lassen. Das arme Kind würde sich fragen, ob es gestern etwas falsch gemacht hatte oder aus welchem Grund er heute nicht kam. Und mit dem fahrbaren Untersatz in der Garage mussten sie den Nachmittag nicht unbedingt wieder im Fernsehzimmer verbringen. Dann wäre keiner zu Hause, wenn Lothar kam, um Dampf abzulassen.
Bis Viertel nach zwei schwitzte er Blut und Wasser, kam jedoch nicht auf die Idee, vorzeitig aufzubrechen, um einer Konfrontation mit seinem ehemaligen Freund aus dem Weg zu gehen. Dann ging er endlich zur Garage und zitterte noch, bis er in die Lambertusstraße einbiegen konnte. Ab da sah er keine Gefahr mehr.
Wie bisher waren sie für halb drei verabredet, diesmal allerdings nicht bei der Sakristei, sondern an der Schule. Dass sich nachmittags noch jemand im Gebäude aufhalten und aufmerksam werden könnte, erwartete er nicht. Aber genau das war der Fall.
Ausgerechnet Frau Sattler, die ihn in seinen ersten vier Schuljahren unterrichtet hatte, kopierte im Lehrerzimmer noch Material für den nächsten Vormittag und wunderte sich bei einem Blick aus dem Fenster. Es kam zwar häufiger vor, dass Kinder, die an entgegengesetzten Enden des Dorfes wohnten, den Schulhof als Treffpunkt nutzten. Aber Saskia war nachmittags noch nie hier gewesen. Frau Sattler nahm an, die Kleine sei mit ihrer neuen Freundin Melanie verabredet, und konzentrierte sich wieder auf den Kopierer, bis sie aus den Augenwinkeln die Bewegung auf dem Schulhof wahrnahm.
Saskia lief zu einem schwarzen Mercedes, der vor dem Jägerzaun angehalten hatte. Der Wagen war alt, wirkte aber sehr gepflegt. Frau Sattler konnte ihn auf Anhieb nicht zuordnen, dafür war es viel zu lange her, seit sie den eisernen Heinrich in diesem Fahrzeug gesehen hatte. Auf die Distanz erkannte sie auch nicht, wer am Steuer saß. Saskia stieg in den Fond, der Mercedes verschwand aus dem Blickfeld der Lehrerin.
Aber am Freitagmorgen tauchte er wieder auf, entschieden früher als alle anderen Autos, mit denen Kinder morgens zur Schule gebracht wurden. Frau Sattler, die immer schon um halb acht kam, näherte sich gerade dem Schulgelände, als der schwarze Wagen von der Pützerstraße in den Jumperzweg einbog. Sie sah Saskia aussteigen, wer am Steuer saß, konnte sie auch diesmal nicht erkennen, dafür hatte der Mercedes zu weit von ihr entfernt angehalten. Sie wartete in der Hoffnung, dass er bei der Weiterfahrt an ihr vorbeikommen würde. Doch er setzte zurück in eine private Einfahrt, wendete und fuhr in Richtung Pützerstraße davon.
Saskia winkte ihm hinterher, kam dann näher. «Guten Morgen, Frau Sattler», grüßte sie artig, als sie die Lehrerin erreichte.
«Guten Morgen, Saskia», erwiderte Frau Sattler den Gruß und lächelte das Kind herzlich an. Wie oft hatte ihr das arme Ding schon leidgetan, wenn es durch Wind und Wetter anmarschiert kam. «Wer war denn da so lieb und hat dich heute mit dem Auto gebracht?»
«Das ist ein Geheimnis», antwortete Saskia gewichtig. «Das darf ich nicht verraten.»
Frau Sattler pflegte lange genug Umgang mit Kindern, um das scheinbar zu respektieren. Fünf Minuten später rief sie in der Bäckerei an.
Bei Schulschluss wurde Saskia von Gerhild in Empfang genommen und einem zwar liebevollen, aber nichtsdestotrotz eindringlichen Verhör unterzogen. In dessen Verlauf gestand sie, schon montags zu ihrem Papa ins Auto gestiegen zu sein. Weil er doch ein Freund von Lothar Steffens war und am Montag Lothars Auto gefahren hatte, am Dienstag ebenso.
Natürlich erzählte sie auch, dass sie schon dreimal nachmittags mit ihm zusammen gewesen war und was sie gemacht hatten. Am Dienstag bei ihm zu Hause Fotos geguckt, am Mittwoch einen Film. Eis, Pralinen und Kekse gegessen, Kakao getrunken und ein bisschen geschmust. Und gestern waren sie in einem großen Haus gewesen,
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