Die Schule der Nacht
ihre Aussage alles war, was die Polizei gegen ihn in der Hand hatte.
»An der Schule machen ungefähr fünfzig verschiedene Theorien über Marcus’ Verschwinden die Runde«, erzählte Caro, während sie eine Banane schälte. »Darunter Cracksucht, Strahlenverseuchung und ein schwules Eifersuchtsdrama.«
»Letzteres hat wohl Simon in die Welt gesetzt?«, vermutete April.
»Du scheinst ihn nur allzu gut zu kennen.« Caro grinste. »Mich wundert nur, dass niemand die Sache mit« – sie senkte die Stimme – » Vampiren in Verbindung bringt, zumal das Ganze doch auf dem Highgate-Friedhof passiert ist. Ich war mir eigentlich sicher, dass die Medien sich wie die Geier auf die Story stürzen würden, aber vielleicht hat Nicholas Osbourne es geschafft, die Sache zu vertuschen.«
April lächelte. Selbst jetzt hielt Caro immer noch an ihrer Verschwörungstheorie fest, obwohl doch zweifelsfrei erwiesen war, dass Davinas Vater weder ein Vampir noch der kaltherzige Unmensch war, für den sie ihn gehalten hatte. Letzten Endes verdankte April ihm sogar ihr Leben. Nachdem Gabriel sie vom Friedhof in den Garten getragen hatte, hatte Davinas Vater mit einem Blick erkannt, dass keine Zeit blieb, auf einen Krankenwagen zu warten, und sie kurzerhand höchstpersönlich in die Notambulanz gefahren, die sich glücklicherweise ganz in der Nähe befand. Wie ihr erzählt worden war, hatte er sich dabei über sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen hinweggesetzt und war über alle roten Ampeln gefahren. Aber ohne Gabriel hätte sie es niemals geschafft. Hätte er sich nicht geopfert, würde sie jetzt in der Gruft neben ihrem Vater liegen.
Oh Gabriel, was hast du nur getan?, dachte sie nun schon zum ungefähr hundertsten Mal.
Als sie zwei Tage nach dem Kampf auf dem Friedhof wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatten die Ärzte ihr berichtet, wie fachgerecht der junge Mann ihre Wunde mit seinem Hemd verbunden hätte. »Er hat wirklich erstaunlich gute Arbeit geleistet«, hatte der Facharzt gesagt. »Ohne seine schnelle Hilfe wären Sie mit Sicherheit verblutet.«
Aber das war nicht alles. Gabriel hatte noch etwas anderes getan – etwas, das so wundervoll und so ungeheuerlich zugleich war, dass April bei dem Gedanken daran jedes Mal schier das Herz stockte. Er hatte sie beatmet. Er hatte seine Lippen auf ihre gelegt und ihr Leben eingehaucht, ohne sich darum zu kümmern, dass er sich dadurch zwangsläufig mit dem Furien-Virus ansteckte und seinen eigenen Tod besiegelte. In den letzten Tagen hatte April immer wieder wach gelegen und darüber nachgedacht, hin- und hergerissen zwischen Wut über seine Dummheit und Erstaunen über diesen unglaublich selbstlosen Akt der Liebe. Und daran, dass es Liebe war, zweifelte sie keinen Augenblick. Gabriel hatte sie nicht einfach nur wiederbelebt, er hatte sie geküsst – hatte sie, die sie halbtot auf dem Friedhof im Schnee gelegen hatte, so innig und leidenschaftlich geküsst, dass sie es in jeder Faser ihres Körpers gespürt hatte. Und dann – der Gedanke daran schmerzte so sehr, dass es ihr beinahe die Luft abschnürte – hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte. Er liebte sie. Mehr noch: Wenn sie nicht mehr wäre, wollte auch er nicht mehr auf dieser Welt sein. Genau das waren seine Worte gewesen. Wann immer er sie in den letzten Tagen besucht hatte, hatte sie versucht, die Sprache darauf zu bringen, aber jedes Mal, wenn sie die Worte, die er zu ihr gesagt hatte, wiederholen wollte, war ihre Kehle wie zugeschnürt gewesen, und sie hatte nur seine Hand halten und flüstern können: »Ich auch nicht… Ich auch nicht, Gabriel.«
April seufzte und versuchte die Gedanken an Gabriel zu verdrängen. »Und wie geht es den anderen so?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Davina genießt es natürlich wieder mal, im Mittelpunkt zu stehen, weil die Tragödie sich nur wenige Meter von ihrem Zimmer entfernt abgespielt hat und ihr Vater jetzt als gefeierter Held dasteht. Übrigens hatte ich, was die positive PR betrifft, vollkommen recht. Die Aktienkurse von Agropharm sind nach Mr Osbournes Heldentat deutlich gestiegen. Ich will damit nicht andeuten, dass er dich nur wegen der guten Publicity gerettet hat, aber…«
April grinste. »Du nimmst es ihm immer noch übel, dass er nicht der Regent ist, oder?«
Caro klaubte eine Mandarine aus der Tüte und begann sie zu schälen. »Ein bisschen vielleicht.« Sie lächelte. »Aber dass er es nicht ist, bedeutet nicht, dass der Regent – wer immer er
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