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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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aus.«
    »Was meinen Sie damit?« fragte ich verärgert.
    »Habe ich das richtig verstanden, daß Sie sagten, Gambrill habe ein Auge verloren?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Dann kann er nicht dieser Tote sein, denn es sind beide Augen vorhanden.«
    Ich starrte ihn verblüfft an. »Das kann doch nicht sein!«
    »Wenn Sie meinem medizinischen Urteil mißtrauen, möchten Sie vielleicht eine zweite Meinung dazu abgeben?« fragte der Arzt lächelnd.
    Mir graute vor dem Gedanken, noch näher an den Toten heranzugehen. Und ich war ziemlich erbittert über die Art und Weise, wie dieser schlaue junge Mann mich verleitet hatte, mich zum Narren zu machen.
    Fast hätte ich etwas gesagt, das ich womöglich später bereut hätte, in diesem Augenblick aber kamen drei Personen durch das Südportal – die Männer vom Bestattungsinstitut. Ich verabschiedete mich hastig von meinen Gesprächspartnern und eilte aus dem Gebäude.
    Als ich an der Menschenansammlung auf den Stufen vorbeiging, war der junge Pomerance immer noch unter den Neugierigen. Er zupfte mich am Ärmel und bat mich, ihm zu sagen, was los sei. Ich teilte ihm kurz mit, was für eine Entdeckung gemacht worden war, und eilte zurück in die Bibliothek. Quitregard hatte gerade Kaffee gekocht und bot mir eine Tasse an. Ich nahm seine Einladung an, weil ich wußte, daß er darauf brannte zu erfahren, was ich zu berichten hatte. Außerdem hatte ich nach diesem schrecklichen Erlebnis auch selbst das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden. Und obwohl ich es eigentlich sehr eilig hatte, zu dem Manuskript zurückzukehren, setzte ich mich also zu ihm und erzählte ihm, was ich wußte. Er war offensichtlich begeistert von dem Geheimnis. »Vielleicht wird die gerichtliche Untersuchung noch irgendwelche Erkenntnisse bringen, aber es ist alles sehr rätselhaft«, schloß ich meinen Bericht.
    Quitregard schlug sich vor die Stirn. »Wenn wir schon von gerichtlichen Untersuchungen reden: Während Sie in der Kathedrale waren, hat der Untersuchungsbeamte einen Polizisten geschickt, um Ihnen mitzuteilen, daß die Untersuchung des Mordes an dem armen Mr. Stonex heute nachmittag stattfinden soll.«
    »Das hat mir Dr. Carpenter schon gesagt. In der Zunfthalle. Wo ist die?«
    Er beschrieb mir den Weg. »Wußten Sie, daß sein Vermögen auf Hunderttausende geschätzt wird?«
    »Und hat er es der Chorschule vermacht?«
    »Nein, Sir. Das heißt, das war zwar wohl seine Absicht, aber sein Testament wurde noch nicht gefunden. Soviel ich weiß, lag es nicht bei seinem Anwalt. Und bisher ist es auch bei der Durchsuchung seines Hauses und der Bank nicht aufgetaucht.«
    »Wenn er ohne Testament gestorben ist, erben seine nächsten Verwandten – vorausgesetzt, daß er welche hat. Weiß man etwas über sie?«
    »Er hatte eine Schwester, aber er hat sich mit ihr überworfen, als sie fast noch ein Kind war. Vor vierzig oder fünfzig Jahren.«
    »Und einen Bruder«, warf ich ein.
    Der junge Mann starrte mich an. »Nein, einen Bruder hatte er nicht. Ich wollte sagen, entschuldigen Sie bitte, Sie müssen sich irren.«
    »Aber ich kann mich ganz genau daran erinnern, daß er gestern nachmittag einen Bruder erwähnt hat. Er sprach von seiner Kindheit im neuen Dekanat und von den Spielen, die er mit seiner Schwester und, wie er sagte, seinem Bruder gespielt hat.«
    Er sah mich verblüfft an. »Ich habe noch nie etwas von einem Bruder gehört. Ich weiß, daß er sich mit seiner Schwester gestritten hat, die sehr viel jünger war als er, und daß sie die Stadt verließ, als sie noch keine zwanzig Jahre alt war. Ich erinnere mich, daß meine Großeltern darüber redeten, weil es einen Skandal gab. Das Mädchen hatte sich anscheinend in einen irischen Schauspieler verliebt, der zu einer Wandertruppe gehörte, die hier am Theater gastierte. Sie wollte ihn heiraten, und als ihr Bruder das nicht zulassen wollte, ist sie mit ihm durchgebrannt. Seitdem hat man in Thurchester nie wieder etwas von ihr gehört. Soviel ich weiß, wurde sie selbst …«
    »Kann es nicht sein, daß es doch noch einen Bruder gab, der vielleicht gestorben ist oder die Stadt ebenfalls schon in sehr jungen Jahren verlassen hat?«
    »Möglich ist das natürlich, aber ich glaube, daß ich davon wüßte. Wie Sie sich vorstellen können, wurde über Mr. Stonex und seine Angelegenheiten in der Stadt sehr viel geklatscht. Ob er sich vielleicht nur versprochen hat?«
    Ich lächelte. »Sie meinen, daß er ›Bruder‹ sagte, obwohl er eigentlich

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