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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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›Schwester‹ meinte? Das ist sehr unwahrscheinlich.
    Es ist alles überaus rätselhaft. Wäre es zuviel verlangt, wenn ich sie bäte, Ihre Großeltern zu fragen, ob sie etwas von einem Bruder wissen?«
    Er lächelte traurig. »Leider sind sie nicht mehr am Leben.«
    »Das tut mir aber leid. Natürlich, es ist ja alles schon so lange her. Ob wohl noch jemand lebt, der sich an den alten Mr. Stonex erinnert? Ich meine, an den Vater des Ermordeten. Sein Porträt ist sehr erstaunlich.«
    »Würden Sie ihn als alt bezeichnen, Sir?« fragte der junge Mann scherzhaft. »Er war höchstens Mitte Vierzig, als er starb.«
    Ich lachte. »In Ihren Augen müßte das eigentlich alt sein. Aber für mich ist das ein tragisch früher Tod. Bei näherem Nachdenken fällt mir auch ein, daß der alte Herr gestern vom Tod seines Vaters und seinem Kummer darüber sprach.«
    »Das wundert mich. Mein Großvater hat erzählt, daß Vater und Sohn sich gegenseitig verabscheut haben. Der Vater hielt seinen Erben für kalt und berechnend.«
    »Die Zeit beschönigt die Erinnerungen. Wenn Sie erst einmal so alt sind wie ich, werden Sie diese Erfahrung auch machen. Außerdem kann man einen Menschen auch hassen und trotzdem von seinem Tod zutiefst betroffen sein.«
    »Das ist sicher richtig, Sir. Aber mein Großvater erzählte immer, daß Mr. Stonex eine ausgesprochen unglückliche Kindheit hatte, weil sein Vater ihn als Langweiler verachtete und meinte, er sei unfähig, das Leben zu genießen. Deshalb haßte der Junge ihn, als er heranwuchs. Die Schwester dagegen war sein Liebling und betete ihren Vater an.«
    »Das dürfte einer der Gründe sein, warum sie nach seinem Tod in Streit gerieten. Ein Mann wie er weckt starke Emotionen. Nach dem, was der alte Herr gestern über ihn sagte, war er ein charmanter, eigensüchtiger Mensch, der nach dem Grundsatz ›Nach mir die Sintflut!‹ lebte.«
    »Jedenfalls hatte er eine wilde, abenteuerliche Jugend«, bestätigte der junge Mann ziemlich verlegen.
    »Aber dann, als sein eigener Vater starb, erzählte mir der alte Herr, änderte er sich. Er kehrte nach Thurchester zurück und arbeitete hart, um die Bank in Schwung zu halten.«
    »Das wird immer behauptet, Sir. Aber mein Großvater hatte da ganz andere Informationen und sagte, daß er nur zurückgekommen sei, um die Bank auszuplündern, und daß sie bei seinem Tod kurz vor dem Zusammenbruch stand. Sein Sohn, der alte Herr also, verbrachte dreißig Jahre damit, den Schaden wiedergutzumachen, den sein Vater in fünf angerichtet hatte.«
    »Das ist ja sehr eigenartig. Ich wüßte zu gerne, wie es wirklich war. Wahrscheinlich werden wir das aber nie erfahren.« Ich seufzte. »Es gibt so viele Rätsel.«
    »Ich habe noch nie soviel Aufregung erlebt«, versicherte mir der junge Mann. »Der arme Mr. Stonex, der Tote hinter dem Burgoyne-Gedenkstein, die gestrigen Auseinandersetzungen wegen Dr. Sheldrick und dann auch noch der Diebstahl in seinem Haus am Donnerstag!«
    »Ob diese Dinge wohl etwas miteinander zu tun haben?« fragte ich.
    Quitregard senkte den Blick. »Ich wüßte nicht wie, Sir. Aber es machen seltsame Gerüchte die Runde über den Diebstahl bei Dr. Sheldrick.«
    »Besteht ein Verdacht gegen jemanden?«
    »Es heißt, daß das, was gestohlen wurde, sehr gefährlich sein könnte, wenn es in die falschen Hände geriete.«
    »Gefährlich für Dr. Sheldrick?«
    »Und für den guten Namen der Stiftung. Das wird jedenfalls behauptet.«
    »Wieso soll ein Satz Miniaturen gefährlich sein?«
    Er sah auf und bekam einen roten Kopf. Mir dämmerte die Erkenntnis, daß meine Frage sehr töricht war. Ich hatte meinen Kaffee ausgetrunken und stand auf. »Wenn Dr. Locard kommt, würden Sie dann bitte so freundlich sein, ihn zu fragen, ob er ein paar Minuten Zeit für mich erübrigen kann?«
    Ich hatte beschlossen, nicht länger damit zu warten, Dr. Locard von meiner Entdeckung zu erzählen. Er mußte es erfahren, also konnte es ebensogut sofort geschehen.
    »Dr. Locard ist hier«, sagte der junge Mann überrascht. »Er ist kurz vor Ihnen gekommen und in den oberen Stock gegangen.«
    Ich war entsetzt, denn plötzlich fiel mir ein, daß ich das Manuskript, nur von einem einzigen Buch verdeckt, auf dem Tisch hatte liegenlassen. Wenn Dr. Locard es gefunden hatte, würde er sich fragen, warum ich ihm noch nichts davon gesagt hatte, und ich fürchtete, er könnte annehmen, daß ich vorgehabt hätte, es vor ihm zu verbergen.
    Ich eilte die Treppe hinauf und fand Dr.

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