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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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eroberten die Feinde die Stadt und nahmen den Märtyrer als Geisel gefangen.
    »Ich gratuliere Ihnen, daß Sie bewiesen haben, was Sie beweisen wollten«, meinte Dr. Locard ironisch. »Dies ist ganz offensichtlich eine sehr viel authentischere Version der Geschichte und vermutlich das, was Grimbald geschrieben hat, bevor Leofranc in seinem Text herumgepfuscht hat.«
    »Und worauf stützen Sie diese Behauptung?« fragte ich verärgert.
    »Sie klingt sehr viel wahrscheinlicher als das absurd heroische Bild des Königs in der späteren Fassung.«
    »Da kann ich Ihnen nicht zustimmen«, erwiderte ich steif. »Das scheint mir eine willkürliche und gefährliche Art der Geschichtsforschung zu sein.«
    »Natürlich ist die Tatsache, daß der König in dieser Version nicht idealisiert wird, an sich noch kein Beweis für ihre Authentizität. Aber ich glaube, wir werden gleich feststellen, daß es unwiderlegliche Beweise gibt. Fahren wir fort.« Damit neigte er den Kopf wieder über das Manuskript.
    Als diese Nachricht den König erreichte, wurde er von seinen Beratern gezwungen, umzukehren und die Stadt zu belagern. Weil der König selbst zu feige war, begab sich sein Neffe als Unterhändler zum Feind. Der Anführer der Heiden erklärte, daß er den Märtyrer töten wolle, wenn der König ihm nicht sein Gold aushändigte. Als der Neffe ihm mitteilte, daß der Staatsschatz an einen sicheren Ort gebracht worden sei, sagte er, daß der König sich selbst als Geisel ausliefern müsse, während der Schatz geholt würde. Als der König dies hörte, weigerte er sich sowohl, das Gold holen zu lassen, als auch, sich selbst auszuliefern. Der Anführer der Feinde kündigte an, daß er den Märtyrer am nächsten Tag töten würde, wenn seine Forderungen nicht erfüllt würden. Der Neffe des Königs riet vor den Beratern dazu, daß der König tun solle, was die Heiden verlangten. Wenn das Gold übergeben und der König befreit sei, könnten sie die Feinde angreifen und den Schatz zurückerobern. Der König traute seinem Neffen nicht und weigerte sich. Darauf sagte der Neffe, daß er sich selbst im Austausch für den Märtyrer anbieten wolle, und die Berater lobten seinen Mut. Daher kehrte er zu den Feinden zurück und wurde vor das Angesicht des Anführers geführt; und auch der Märtyrer wurde aus seinem Gefängnis geholt. Als der Neffe sein Angebot machte, lachte der Anführer und wies es zurück. Er erklärte, der Neffe sei ein tapferer Mann, er fordere jedoch seinen Onkel. Er hatte die Absicht, den König zu zwingen, seine Forderungen zu erfüllen, indem er den Märtyrer am Haupttor der Stadt aufhängte. Der Märtyrer jedoch war ein weiser und gebildeter Mann und wußte daher, daß eine Sonnenfinsternis bevorstand. Er wußte auch, daß dem König solche himmlischen Phänomene bekannt waren, denn vor vielen Jahren, als er noch sein Lehrer war, hatte er mit ihm Plinius gelesen und übersetzt. Und so versuchte er, dem König dies mitzuteilen, indem er dem Neffen auftrug, eine Botschaft zu übermitteln, die anderen nichts bedeutete – auch nicht dem Neffen selbst, der mehr ein Krieger als ein Gelehrter war –, die der König jedoch verstehen würde. Als der Neffe zu der Belagerungsarmee zurückkehrte, wurde der Märtyrer an Seilen unter den Armen von der Stadtmauer herabgehängt, so daß alle es sehen konnten.
    Der Neffe des Königs kehrte zu seinem Onkel zurück und erklärte ihm und seinen Beratern, daß sein Plan gescheitert sei. Er überbrachte auch die Nachricht von dem Märtyrer, und der König verstand, was sie bedeutete, gab jedoch vor, sie nicht zu verstehen. Er wollte, daß der Märtyrer schnell getötet würde, um die Situation zu klären, denn er fürchtete, daß seine Berater planten, ihn dem Feind zu übergeben. Er glaubte, daß sie sich, sobald der Märtyrer freigelassen worden sei, weigern würden, das Gold auszuliefern, so daß er, der König, getötet werden würde, und daß sie ihn durch seinen Neffen ersetzen würden. Sein Verdacht wurde bestätigt, als er feststellte, daß seine Leibwächter zu seinen Bewachern geworden waren. Deshalb beschloß er zu fliehen. Da er aber so streng bewacht wurde, wußte der König, daß es fast unmöglich sein würde zu entkommen. Aber dann hatte er einen Einfall, wie es ihm gelingen könnte, wenngleich er schändlich und entwürdigend war. Spät in der Nacht rasierte er heimlich seinen Bart ab und verkleidete sich mit den Kleidern einer der Frauen seines Haushalts. Auf diese Weise

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