Die schwarze Kathedrale
Locard zu meinem Ärger auf meinem alten Platz über den Tisch gebeugt vor. Als ich auf ihn zuging, hob er den Kopf und lächelte dünn. »Meine Gratulation, Courtine. Sie haben eine überaus bemerkenswerte Entdeckung gemacht.«
Das Manuskript lag vor ihm. »Ich hatte es in dem Moment gefunden, als Pomerance kam und mir die Neuigkeit von dem Toten in der Kathedrale überbrachte«, antwortete ich verlegen. »Ich wollte es Ihnen gerade mitteilen, als diese Nachricht mich alle anderen Überlegungen vergessen ließ.«
»Dies ist ein erstaunlich aufregender Tag«, bemerkte er trocken, »fast so dramatisch wie der gestrige.«
Er deutete auf die Regale um uns herum. »Haben Sie es hier oben gefunden?«
»Ganz zufällig. Ich war auf die Protokolle des Kanzleigerichts gestoßen und blätterte sie durch, und da lag es zwischen den Seiten.« Ich deutete auf den Folianten, der immer noch an der Stelle geöffnet war, wo das Manuskript gesteckt hatte.
»Welch ein eigenartiger Zufall«, bemerkte er.
Ich hielt es zwar nicht für einen Zufall, beschloß aber, ihm nichts davon zu sagen, daß ich mich über den Tod von Limbricks Vater hatte informieren wollen, gerade so wie Pepperdine es vor über zweihundert Jahren getan hatte. »Ich konnte es bislang nur kurz überfliegen«, erklärte ich. »Es scheint genau das zu sein, was ich zu finden gehofft hatte: ein Teil der Originalversion von Grimbalds ›Leben‹.«
»Ich hatte selbst erst knapp zwanzig Minuten Zeit, um es mir anzusehen«, erwiderte Dr. Locard. »Aber es ist mir aufgefallen, daß überhaupt keine Namen genannt werden. Selbst die Angreifer werden nur ›pagani‹ genannt, und die Stadt wird als ›civitas‹ bezeichnet. Außerdem ist das Manuskript in mancher Hinsicht ausgesprochen ungewöhnlich, und mir ist dazu etwas eingefallen. Aber wollen wir erst einmal sehen, was wir gemeinsam daraus machen können?«
Ich fühlte mich wie ein Kind, dem der ältere Bruder das Weihnachtsgeschenk weggenommen und ausgepackt hat. Aber ich hatte keine Wahl, und so nahm ich neben ihm Platz. Und wie zwei Schuljungen, die Seite an Seite in einer Schulbank sitzen und miteinander in der gleichen Fibel lesen, begannen wir gemeinsam, den Text zu übersetzen:
Der König und der Märtyrer waren einst gute Freunde gewesen, aber sie waren es nicht mehr, weil letzterer seinem ehemaligen Schüler Vorhaltungen wegen seiner Verfehlungen machte. Vor allem tadelte er ihn dafür, daß er den Thron nicht seinem Neffen überließ, der nun alt genug dafür war. In Anwesenheit seiner Berater hielt der Märtyrer dem König vor, daß der Jüngling als Sohn des älteren Bruders des letzten Königs der rechtmäßige Herrscher sei. Es war überdies allgemein bekannt, daß der König seinen Vater und seinen älteren Bruder ermordet hatte. Unter den Anwesenden gab es viele, die den Neffen des Königs unterstützten, weil sie glaubten, daß er ein stärkerer und vertrauenswürdigerer König sein würde als sein Onkel.
»Das ist interessant«, meinte Dr. Locard. »Es hatte tatsächlich sehr unwahrscheinlich ausgesehen, daß Alfred den Thron erben würde, nicht wahr?«
»Aber es ist nichts bekannt, das darauf schließen ließe, daß er irgendwelche Mitglieder seiner Familie ermordet hätte«, erwiderte ich verärgert. Dr. Locard hatte behauptet, daß er kein Fachmann für diese Zeit sei, und dennoch hatte er nicht nur meinen und Scuttards Artikel gelesen, sondern kannte offensichtlich auch einige der Quellen. Lag das nur an seinen herausragenden Fähigkeiten als Wissenschaftler, oder hatte Austin recht mit dem Verdacht, daß er ein professionelles Interesse an der Geschichte Englands vor der Eroberung zu zeigen begann?
»Nein, aber ich glaube, daß so etwas auch gar nicht in den Quellen enthalten sein könnte, weil der König nämlich weitgehend bestimmte, was über ihn geschrieben, und damit auch, was über ihn überliefert wurde. Aber fahren wir fort.«
Der König wurde dadurch gerettet, daß eine plötzliche Gefahr von außen das Königreich bedrohte: Eine riesige Armee der Heiden fiel in das Land ein und zog marodierend, plündernd und raubend durch Städte und Dörfer. Der König ließ die Stadt, die auf dem Weg der vordringenden Heiden lag, unter der Obhut des Märtyrers zurück und sagte, er wolle ihnen entgegenziehen und gegen sie kämpfen. In Wirklichkeit fürchtete er jedoch für seine eigene Sicherheit und führte seine Armee in die entgegengesetzte Richtung. Wegen der Feigheit des Königs
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