Die schwarze Kathedrale
gelangte er unerkannt an den Wächtern vorbei und begab sich zu den Ställen. Dort bestieg er sein Pferd, doch in den Frauenkleidern erkannte das Tier ihn nicht, und da er ein schlechter Reiter war, wurde er zu Boden geworfen, als es sich aufbäumte. In dieser schändlichen Lage entdeckte ihn ein Stallbursche, der ihn trotz seiner Verkleidung erkannte und zu schreien begann. Der König versuchte, wieder auf das Pferd zu steigen, aber der Junge hielt den Zügel des Tieres fest und schrie so lange, bis die Wächter kamen und seinen Herrn festnahmen.
»So klingt das sehr viel sinnvoller«, murmelte Dr. Locard. »Der König flieht vor einer Gefahr und sucht sie nicht.« Er wandte sich an mich. »Finden Sie nicht, daß diese Version von dem Pferd und dem Stallburschen sehr viel überzeugender ist als der sentimentale Bericht bei Leofranc?«
»Nein«, sagte ich unglücklich. »Ich finde Leofrancs Version ebenso plausibel.«
»Wie eigenartig«, meinte er und preßte mit einem gemeinen Gesichtsausdruck die Lippen zusammen. »Dann haben Sie also Ihre Meinung geändert, Dr. Courtine, und Sie behaupten jetzt, daß dieses Manuskript nicht authentisch ist, nicht aus dem Original von Grimbalds ›Leben‹ stammt, nicht älter ist als Leofranc und nicht seine Quelle war?«
»Das kann ich noch nicht entscheiden«, erwiderte ich mit so viel Würde, wie ich nur aufbringen konnte.
Ich war verzweifelt. Das Manuskript stammte eindeutig aus einer früheren Epoche als Leofrancs Version, und die Parallelen waren so unübersehbar, daß es, besonders im Hinblick auf seine Herkunft aus Thurchester, unmöglich schien zu leugnen, daß er seinen Text darauf gestützt hatte.
»Sehen wir, wie es weitergeht«, sagte Dr. Locard.
Durch diese feige Tat war die Autorität des Königs zerstört. Der Neffe und die anderen großen Lords beschlossen, ihn im Austausch für den Märtyrer an den Feind auszuliefern und nach dem Staatsschatz zu schicken. Inzwischen war es Tag geworden. Die Belagerungsarmee war aufmarschiert, um zuzusehen, wie der König ausgeliefert wurde, und als die Sonne sich über den Horizont erhob, sah man, daß der Märtyrer immer noch über dem Tor hing, offenbar dem Tode nah. Nun erinnerte sich der König an die Botschaft des Märtyrers, und er sagte zu seinem Neffen und den anderen großen Lords, daß Gott, als Strafe für diesen schrecklichen Akt der Untreue, die Sonne fortnehmen würde, wenn sie ihn den Feinden ausliefern würden. Sie lachten und wollten ihn fortführen. In diesem Augenblick begann die Sonne zu verschwinden, und das Land wurde dunkler und dunkler, bis vollkommene Finsternis herrschte. Der Neffe des Königs und die großen Lords blieben entsetzt stehen, und als der König ihnen erklärte, daß die Sonne wiederkehren würde, wenn sie ihn freiließen und ihm seine Autorität voll und ganz wiedergäben, nahmen sie diese Bedingungen auf der Stelle an. Unterdessen glaubte der Anführer der Feinde, der auf dem Haupttor stand, daß der Märtyrer die Sonne durch seine Zauberkraft habe verschwinden lassen. Deshalb befahl er, die Seile, an denen er hing, zu durchschneiden. Gerade als die Finsternis sich zu heben begann, stürzte der alte Mann in den Tod. Der König war hoch erfreut, weil er wußte, daß er gerettet war und auch seinen Schatz nicht aufgeben mußte.
Die Berater des Königs und die großen Lords glaubten, daß der König der Sonne zuerst befohlen habe, zu verschwinden, und sie dann wieder zurückgerufen habe. Als er ihnen befahl, seinen Neffen zu töten, stellten sich die meisten von ihnen auf seine Seite. Ein Kampf brach aus, und der Neffe wurde erschlagen. Als die Heiden sahen, daß ihre Feinde miteinander im Kampf lagen, führten sie einen plötzlichen, wilden Angriff auf die Truppen des Königs aus und besiegten sie vollständig. Der König war gezwungen, seinen Schatz als Preis dafür auszuhändigen, daß die Feinde sein Königreich wieder verließen. Dazu war er nun aber bereit, weil sein Rivale tot war, und da er alle anderen Neffen bereits ermordet hatte, gab es niemanden mehr, der Anspruch auf den Thron erheben konnte. Überdies hatte er so wenig Respekt für den Bischof, daß er …
»Und hier bricht der Text abrupt ab. Also, Dr. Courtine, da haben Sie wirklich eine ganz ungewöhnliche Entdeckung gemacht! Wenn sie das ist, was Sie zu finden hofften, wird die Geschichte des neunten Jahrhunderts wahrhaftig umgeschrieben werden müssen. Ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, daß dieser Text
Weitere Kostenlose Bücher