Die schwarze Kathedrale
dieses Nachwort schreibe. Abgesehen von den unglücklichen Kindern des armen Perkins, bin ich, wie ich glaube, das letzte überlebende Opfer.
Eines Sonnabends Anfang Dezember ging ich also zum ersten Mal in das Haus des alten Mr. Stonex. Es war der erste von nur zwei Besuchen, denn danach habe ich es nur noch ein einziges Mal betreten. (Nach dem Tod des alten Herrn wurde das Haus dann von seiner Schwester verkauft, die alle Werte, die sie erbte, in erster Linie natürlich die Bank, aber auch etliche Anwesen in und um die Stadt, innerhalb weniger Monate nach der Testamentseröffnung zu Geld machte und anschließend ins Ausland zog. Das Haus wurde später das Büro der Rechtsanwälte Gollop und Knaggs, das es bis heute geblieben ist.)
Der Tee mit dem alten Herrn verlief sehr erfreulich. Ich mußte mich ihm gegenüber an den Tisch setzen, und er redete mit mir wie mit einem Erwachsenen, nicht in der Babysprache, die der Kanzler uns gegenüber verwendete, und – was mir am wichtigsten war – er erkundigte sich nicht nach irgendwelchen Prügelstrafen.
Statt dessen fragte er mich nach meinen Schulfächern, und ich sagte ihm, daß ich Griechisch und Latein gerne mochte, weil der Lehrer, der die klassischen Sprachen unterrichtete, ein so freundlicher Mann sei. Er gestand, daß er diese Sprachen als Junge gehaßt habe und eine vollkommene Niete darin gewesen sei. (Ich möchte noch bemerken, daß ich, weil mir der Unterricht bei dem freundlichen alten Herrn so gut gefiel, mit diesen Fächern fortfuhr, als ich später auf die Public School ging, und anschließend in Cambridge ebenfalls klassische Philologie belegte.) Er erzählte mir, daß auch er auf die Chorschule gegangen sei, und wir stellten fest, daß das Leben, das er dort geführt hatte, sich trotz des Zeitunterschieds von rund sechzig Jahren nicht sehr von dem meinen unterschied. Es gab auch noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns. Er gestand mir, daß er auch gestottert habe, als er in meinem Alter gewesen sei. Wir sprachen auch über die Lehrer. Mr. Stonex fragte mich nach dem Hilfsorganisten und schien an dem wenigen, das ich ihm berichten konnte, überaus interessiert zu sein.
Als es für mich schon fast Zeit war zu gehen, fiel ihm plötzlich ein, daß er sein Versprechen, mir seine Atlanten zu zeigen, noch nicht gehalten hatte. Er vergeudete noch mehr Zeit – in meinen Augen jedenfalls –, indem er mir erzählte, daß er als Junge Seemann oder Entdecker hatte werden wollen und daß er aus diesem Grund eine Leidenschaft für Landkarten entwickelt habe. Dann jedoch habe er alle seine Reiseträume aufgeben müssen, weil er durch den frühen Tod seines Vaters schon in sehr jungen Jahren die ganze Verantwortung für die Familie habe übernehmen müssen. Er berichtete mir – etwas verworren, wie mir schien –, welch eine Ironie es sei, daß er immer ein Held habe werden wollen und davon geträumt habe, wie er als gefeierter und bewunderter Kriegsheld oder kühner Seefahrer in seine Heimatstadt zurückkehren würde, und daß er tatsächlich eine Art Held geworden sei, allerdings ein heimlicher. Er wurde ganz aufgeregt, als er mir anvertraute, daß der Lohn für sein Heldentum aber nicht Dank und Liebe sei, sondern daß er im Gegenteil gemieden und verachtet würde. All das verstand ich natürlich nicht, und erst vor drei Jahren erfuhr ich, was er damals gemeint hatte. (So wenig sie mir damals auch sagten, blieben mir seine Worte doch im Gedächtnis, weil ich nur wenig später selbst in die Lage versetzt wurde, mit einem schrecklichen Geheimnis belastet zu sein.) Der alte Herr war so gefangen von seiner Geschichte, daß er darüber die Zeit vollkommen vergaß. Das Läuten der Großvateruhr, die glücklicherweise ziemlich stark vorging, brachte uns zu Bewußtsein, wie spät es bereits war, und als ich mich verabschiedete, ohne die Atlanten gesehen zu haben, versprach mir mein Gastgeber, daß ich bald wiederkommen und sie mir in Ruhe ansehen dürfe.
So freundlich sich der alte Herr auch mir gegenüber verhielt, glaube ich doch nicht, daß er ein netter Mann war. Jedenfalls war er sicher kein besonders guter Mensch, denn er behandelte seine Schwester schlecht, als sie noch sehr jung und in einer äußerst schwierigen Lage war. Als ich hörte, daß das ganze Vermögen an die Schwester von Mr. Stonex gefallen war, die, wie sich herausstellte, unter sehr beengten Umständen in Harrogate lebte, war ich, wie viele Leute in der Stadt auch, der Meinung, daß nun
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