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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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derartige Wünsche.
    Ich wurde nicht nur von meinen eigenen Schulkameraden herumgestoßen, sondern alle Chorknaben hatten darunter zu leiden, daß es noch eine zweite Schule am Domplatz gab. Wir Chorknaben waren Empfänger von Stipendien, und selbst die Tatsache, daß unsere Schule im alten Torhaus untergebracht war, wurde dazu benutzt, uns zu beleidigen. Die CourtenayJungen waren reich – jedenfalls reicher als die meisten von uns – und schon deshalb selbstbewußt. Sie liefen stolz in ihrer auffälligen Schuluniform in der Stadt herum, mit dunklen Röcken, blauen Kniehosen und Schnallenschuhen, unangefochten im Besitz ihres Territoriums, des unteren Domplatzes, und wenn einer von uns sich dorthin wagte, waren uns Prügel gewiß. Sie hingegen drangen unbesorgt in unser Gebiet, den oberen Domplatz, ein, doch von uns wurde erwartet, daß wir ihnen klug aus dem Weg gingen oder unsere Strafe in Form von Stößen und Schlägen einsteckten.
    Eines Sonnabends im September, als ich gerade den oberen Domplatz überquerte, ging ein alter Herr, den ich vom Sehen kannte, vor mir her. Er trug eine Reihe von Gegenständen – unter dem linken Arm ein Päckchen und etwas Großes, das aussah wie ein Buch, und unter dem rechten eine Ledertasche. Da ließ er das Päckchen fallen und ging weiter, ohne es zu bemerken. Ich hob es auf, rannte hinter ihm her und gab es ihm zurück. Er war sehr dankbar und schien sehr bestürzt zu sein, weil ich so schrecklich stotterte und so blaß war. Auch meine etwas exotischen Manieren fielen ihm auf. Er war fasziniert, als er hörte, daß ich in Indien geboren war, und er sagte, daß er ein leidenschaftliches Interesse an fernen Ländern habe. Dann zeigte er mir das Buch, das er unter dem Arm trug. Es war eine wunderschön illustrierte Sammlung alter Landkarten, die, wie er mir erklärte, vor zweihundert Jahren in Leiden gedruckt worden war. Er erklärte mir, daß er Karten und Atlanten sammle und daß er hoffe, eines Tages Gelegenheit zu haben, mir seine Kollektion zu zeigen. Ich wußte, daß er der alte Mann war, der in dem großen alten Haus am Ende des oberen Domplatzes wohnte.
    Ich begegnete ihm hin und wieder, und während des Oktobers und Novembers redete ich noch fünf- oder sechsmal mit ihm, immer vor der Hintertür seines Hauses. Einmal traf ich ihn an einem Sonnabend, als der Domplatz verlassen da lag, und erzählte ihm, daß ich an diesem Tag immer allein sei. Da lud er mich für den folgenden Sonnabend zum Tee ein, schärfte mir aber ein, ich solle es niemandem verraten, es solle unser Geheimnis sein. Er wollte nicht einmal seiner Haushälterin etwas davon sagen, sondern das Brot und den Kuchen selbst kaufen. Ich glaubte zu wissen, was ich zu erwarten hatte, denn ich war zweimal von Dr. Sheldrick, der gelegentlich am Nachmittag Jungen zu sich bat, zum Tee eingeladen worden. (Der Schulleiter wußte entweder nichts von diesen Besuchen, oder sie waren ihm gleichgültig – ich vermute letzteres, denn er und der Kanzler, beide eiserne Vertreter der Low Church, waren Verbündete in der verwickelten Politik des Domkapitels.)
    Ich war von Natur aus mißtrauisch und bereits sehr geübt im Bewahren von Geheimnissen, denn wegen der erwähnten Schwierigkeiten in meiner Familie, die bald darauf dazu führten, daß meine Eltern getrennt lebten, hatte ich mich schon in jungen Jahren daran gewöhnen müssen, alles für mich zu behalten und ein instinktives Mißtrauen gegenüber den Motiven anderer zu entwickeln. Meine Verwicklung in den Fall Stonex hatte eine erschreckende Wirkung auf mich, die um so schlimmer war, als keiner davon wußte. Damals schwor ich mir, niemals zu verraten, was ich durch reinen Zufall erfahren hatte. Der wahre Grund aber war, daß ich niemanden hatte, dem ich vertraute, und so wagte ich es nicht, jemandem davon zu erzählen. Ich mußte mein Geheimnis und die damit verbundene Last des Schuldgefühls ganz alleine tragen, ohne dadurch Erleichterung zu finden, daß ich mich einem anderen Menschen hätte anvertrauen können. So ließ ich also nichts von dem verlauten, was ich wußte, und mied alle Gespräche über den Mord, bis ich mich vor einigen Jahren veranlaßt sah, einen Brief an eine Zeitung zu schreiben, um einige Irrtümer richtigzustellen, die in einem grotesken Artikel über den Fall enthalten waren. Dieser Brief verwickelte mich in einer Weise, die ich weder vorhergesehen noch beabsichtigt hatte, von neuem in den Fall und ist die Erklärung dafür, daß ich heute

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