Die schwarze Kathedrale
ich wach und hörte ihn auf der Treppe. Ich fand das schon erschreckend genug, wenn ich von meinen schlafenden Kameraden umgeben war. Aber die Aussicht, all das während der Weihnachtsferien zehn Tage lang allein ertragen zu müssen, war entsetzlich – besonders, weil ich fürchtete, daß manchmal wirklich jemand die Treppe hinaufschleichen würde. Am Weihnachtstag, der in diesem Jahr auf einen Sonntag fiel, würden alle anderen Chorknaben nach dem zweiten Gottesdienst nach Hause zu ihren Eltern gehen, nur ich würde allein hierbleiben. Der Schulleiter und seine Frau würden zwar ein Auge auf mich haben, aber nur widerwillig und unregelmäßig. Ich hatte entsetzliche Angst, daß Dr. Sheldrick darauf bestehen könnte, daß ich den Tag mit ihm verbringen sollte, obwohl es doch viel zu kalt zum Photographieren sein würde.
Und aus diesem Grund war mir meine Freundschaft mit Mr. Stonex so wichtig. Das Wissen, daß es einen Erwachsenen gab, der mich um meiner selbst willen zu mögen schien, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, ließ mich an meinen eigenen Wert glauben. Und die Tatsache, daß wir ein Geheimnis hatten, gab mir ein Gefühl von Macht. Nachts im Bett klammerte ich mich an dieses Geheimnis wie an einen Talisman. Ich wußte etwas, das die anderen Jungen nicht wußten. Etwas, das nicht einmal die Lehrer wußten. (Ich blieb für alle Zeiten gut darin, Geheimnisse zu bewahren, vielleicht zu gut. Verschwiegenheit ist zu einem meiner Wesenszüge geworden.) Ich malte mir aus, wie der alte Mann mich als seinen Enkel adoptieren und von der Schule nehmen würde, damit ich mit ihm zusammenleben konnte. Aber meine Hoffnung, daß er mich zum Weihnachtsessen einladen würde, war durchaus realistisch.
Am Donnerstag vor Weihnachten kam ich in Begleitung eines anderen Chorknaben von der morgendlichen Chorprobe zurück. Es hatte über Nacht geschneit, was für mich etwas ganz Besonderes war, denn ich hatte noch niemals Schnee gesehen. Ich bemerkte den alten Herrn nicht – er mußte wohl gerade auf dem Weg zur Bank sein –, bis er unmittelbar vor mir stand. Ich war ganz in Gedanken vertieft, denn während der Chorprobe hatte mich nämlich etwas, das der Chorleiter angekündigt hatte, in Panik versetzt. Plötzlich sprach Mr. Stonex mich mit Namen an. Der andere Junge ging weiter und sah sich noch einmal neugierig nach uns um, und gerade in diesem Augenblick kam der junge Mr. Quitregard vorbei, um die Bibliothek zu öffnen, wie er es jeden Donnerstag um diese Zeit tat.
Mr. Stonex fragte mich, ob ich zum Weihnachtsessen zu ihm kommen wolle. Dann fuhr er fort: »Du hast meine Landkarten noch immer nicht gesehen. Heute nachmittag erwarte ich einen schönen, alten Atlas, den ich dir zeigen möchte, wenn du mich besuchst.«
»Das wäre wunderbar, Sir«, antwortete ich. »Wann?«
»Am Nachmittag«, erwiderte er. Seine Antwort war nicht eindeutig, aber ich wünschte mir so sehr, daß er mich noch am selben Nachmittag zu sich nach Hause einladen würde – ich wollte die Chorprobe schwänzen –, daß ich mir einredete, er habe tatsächlich gemeint, daß ich noch an diesem Tag hingehen solle. Eigentlich war ich mir halb darüber im klaren, daß er gemeint hatte, daß der Atlas an diesem Nachmittag geliefert werden würde und daß er ihn mir am Weihnachtstag zeigen wolle. Außerdem wäre ein Besuch bei ihm keine Entschuldigung gewesen, nicht zur Chorprobe zu erscheinen – er hätte das Vergehen nur noch verschlimmert. Aber ich war so verzweifelt, daß ich mich an jeden Strohhalm klammerte.
Miss Napier schrieb mir vor vier Jahren – gerade als sich der dunkle Schatten über Europa zu senken begann, der sich erst jetzt wieder gehoben hat – und bat mich, ihr bei ihrem Buch behilflich zu sein. Ich lehnte ab. Mein Grund war nicht ein Mangel an Interesse – im Gegenteil, ich halte mich für das letzte Opfer, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht mit großer Seelenpein an den armen Perkins denke. Der wohlbekannte Schlüsselbund zu Mr. Stonex’ Haus, von dem damals so viel die Rede war, lag viele Jahre lang auf meinem Schreibtisch, wo ich ihn täglich vor Augen hatte. Diese Schlüssel waren das Herz des Geheimnisses, wie der Mörder aus dem Haus herausgekommen war und es verschlossen hatte, und sie spielten deshalb eine ausschlaggebende Rolle bei der Frage, ob Perkins schuldig war oder nicht.
Ich habe Miss Napier nichts davon erzählt, sondern sagte ihr nur, daß ich vor vielen Jahren den Entschluß gefaßt hätte, nichts über
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