Die schwarze Kathedrale
Wir schliefen in schmalen Rollbetten im obersten Stockwerk. Um neun Uhr wurden wir eingeschlossen und blieben uns gewöhnlich die ganze Nacht lang selbst überlassen, was mehr als unangenehm war, denn die größeren Jungen quälten und verspotteten die kleineren, und obwohl ich einer von den älteren war, gehörte ich doch zu denen, die schikaniert wurden. Obwohl all dies vor nicht einmal vierzig Jahren geschah, erscheint es mir heute, als sei es in einem anderen Zeitalter gewesen. Heutzutage könnte keine Schule es sich erlauben, mit Kindern so umzugehen, wie wir damals behandelt wurden. Der Schlafsaal war im Winter vollkommen ungeheizt und das ganze Jahr über mit Ratten verseucht. Wir schliefen zu achtzehnt in diesem einen großen Raum, dessen Fenster während der eisigen Winternächte so fest verschlossen waren, wie es die klapprigen Fensterrahmen zuließen. Um halb sieben mußten wir aufstehen, um an der morgendlichen Chorprobe teilzunehmen. Danach folgte das kärgliche Frühstück, und dann versammelten wir uns im großen Klassenzimmer im Erdgeschoß, das nur schwach durch ein einziges Kohlefeuer erwärmt und immer vom Gestank der billigsten Talgkerzen erfüllt war.
Die Sonnabende waren meine liebsten Tage, jedenfalls bis zum Anbruch der Dunkelheit, denn dann ging mein Lieblingstag in die Nacht über, die ich am meisten fürchtete. Die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag war nämlich die einzige, die ich allein im alten Torhaus verbrachte. Obwohl meine Familie früher einmal eine Verbindung zu Thurchester gehabt hatte, hatte ich keine Verwandten mehr hier. Wenn also am Sonnabend nach der Chorprobe und dem Frühstück die anderen Jungen fortgingen, um ihre Familien zu besuchen, und auch die Köchin und das Hausmädchen gegangen waren, die an diesem Tag ebenfalls frei hatten, fand ich mich allein und ohne irgendeinen Erwachsenen wieder, der sich dafür interessierte, was ich trieb. Oder sagen wir einmal, sich in einer Weise für mich interessierte, die mir willkommen gewesen wäre. Ich verbrachte den Tag damit, einsam in der Stadt herumzustrolchen, und kehrte nur ins Torhaus zurück, um das Brot und den Käse zu essen, den die Dienstboten für mich dagelassen hatten. Am Abend trug ich, anstatt allein in dem großen Schlafsaal zu nächtigen, mein Bettzeug in die kleine Dachkammer hinauf – obwohl auch das mich nicht rettete.
Diese meine allwöchentliche Einsamkeit war der Grund, weshalb ich die Freundschaft schloß, durch die ich in den Mordfall verwickelt werden sollte.
Natürlich will ich nicht behaupten, daß ich ununterbrochen nur unglücklich gewesen sei. Es gab auch glückliche Augenblicke – wenn ich im Sommer mit einem Buch im Gras am unteren Domplatz lag oder wenn wir im Herbst über dem Kaminfeuer im Klassenzimmer Kastanien rösteten. Ein- oder zweimal lud uns einer der jüngeren Domherren, Dr. Sisterson, zu sich nach Hause ein, wo wir von seiner netten Frau und seinen Kindern freundlich aufgenommen wurden, und gelegentlich kam es vor, daß niemand daran dachte, daß ich anders und seltsam sei, wenn ich an den Spielen teilnahm. Später – nach der Zeit, von der ich hier spreche – gewann ich sogar einen Freund, einen stillen, furchtsamen Jungen, von dem ich zunächst wenig Notiz genommen hatte, abgesehen davon, daß ich mich gelegentlich neidvoll gefragt hatte, wie er es fertigbrachte, nicht gemieden und verspottet zu werden, weil er keine Freude an rauhen Spielen, Lärm und dergleichen hatte. (Er hatte einen sehr viel älteren Bruder, der in der Bibliothek arbeitete.) Ein weiterer Trost war mir die Entdeckung, daß ich Freude an Griechisch und Latein hatte. Beide Fächer wurden von einem alten Mann unterrichtet, der die antike Literatur leidenschaftlich liebte und uns ein freundliches und uneigennütziges Interesse entgegenbrachte.
Aber als die Schule nach den ersten Sommerferien seit meiner Ankunft wieder begann – ich hatte entsetzlich langweilige und einsame Wochen bei einer alten Tante und einem Onkel in einem abgelegenen Dorf in Cumberland verbracht –, wurde ich immer unglücklicher. Ich brachte Stunden damit zu, mir auszumalen, wie ich der Schule entkommen könnte. Meine Eltern könnten beide sterben, und wenn dann die Gebühren nicht mehr bezahlt würden, würde ich in die Welt hinausgeschickt werden, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Oder jemand könnte mich adoptieren. Und wenn nichts dergleichen geschah, würde ich eines Tages einfach davonlaufen. Ich hatte gute Gründe für
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