Die schwarze Kathedrale
doch eine Art von Gerechtigkeit aus dem Schrecken des brutalen Mordes an dem alten Herrn erwachsen war. Es wurde bekannt, daß die Schwester seit einigen Jahren in einer winzigen Hütte gelebt hatte und infolge eines Schlaganfalls seit kurzem bettlägerig war. Der Gedanke an die vergessene Verwandte, die so plötzlich aus Armut und Krankheit zu so großem Reichtum gekommen war, erschien mir ungemein romantisch.
Einige Jahre nach dem Mord, im Februar 1903, wurde ein Artikel zu diesem Thema in der »Daily Mail« veröffentlicht. Der Verfasser behauptete, daß die Schwester schon immer der Meinung gewesen sei, ihr Bruder habe sie um ihren Anteil am Vermögen des Vaters betrogen. Der Artikel brachte die folgende Geschichte: Ihr Vater hatte sie immer ihrem Bruder vorgezogen, und die Animosität, die dadurch unter den Geschwistern entstanden war, wurde noch dadurch vergrößert, daß sie vollkommen gegensätzliche Temperamente besaßen: Er war vorsichtig, ungesellig und scheu; sie war brillant, extravagant und schnell gelangweilt. Der Vater starb, als das Mädchen vierzehn war, und ihr Bruder, der etwa sieben Jahre älter war als sie, behandelte sie schlecht, um sich zu rächen. Mit sechzehn hatte sie als eine der bedeutendsten Erbinnen im Umkreis gegolten, aber der Bruder hatte sich geweigert, ihr eine Mitgift zu bewilligen, wodurch er das Interesse aller jungen Männer aus angesehenen Familien in der Grafschaft zum Erlöschen gebracht hatte. Infolge seiner schlechten Behandlung war sie von einem sehr viel älteren Mann verführt worden, einem Schauspieler, der mit einer Wandertruppe in die Stadt gekommen war und sie entführt hatte. Sie versuchte ebenfalls, sich ihren Lebensunterhalt auf der Bühne zu verdienen, hatte aber keinen besonderen Erfolg. Sie war eine brillante, leidenschaftliche, überzeugende und kühne Schauspielerin, pflegte aber eigenmächtig vom Text abzuweichen und ihre Rolle im Eifer des Augenblicks zu improvisieren, mit dem Ergebnis, daß andere Schauspieler sich weigerten, mit ihr auf die Bühne zu gehen und kein Manager sie mehr einstellen wollte. In den folgenden Jahren, so behauptete sie, brachte ihr Bruder es fertig, sie um ihren Anteil des Erbes zu betrügen. Als sie einundzwanzig Jahre alt wurde und erfolglos versuchte, das Geld einzufordern, wurde sie samt ihrem kleinen Kind von ihrem Liebhaber verlassen. Der Autor des Artikels schrieb, daß der Verführer selbst eng mit einer adeligen irischen Familie verwandt war und deshalb relativ gute Aussichten hatte, trotz der zweifelhaften Art, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente, eine gute Partie zu machen.
All dies war natürlich zwischen dreißig und vierzig Jahre vor der Zeit geschehen, von der ich spreche, nämlich dem Nachmittag, an dem ich Mr. Stonex gegenüber an jenem großen Tisch in der Wohnküche saß und er mir davon erzählte, wie er alle Hoffnungen habe begraben müssen, die er als Junge einmal gehabt hatte. Einige Jahre später kam mir der Einfall, daß er sich wegen all dem, was er seiner Schwester angetan hatte, schuldig fühlte und vielleicht sogar in mir das Kind seiner Schwester sah, das er vor nicht allzu langer Zeit ohne einen Pfennig von der Schwelle gewiesen hatte. Ich hatte Mitleid mit ihm, denn ich weiß, wie bedrückend und nagend Schuldgefühle sein können, denn wenn irgendein lebender Mensch für den ungerechten und grausamen Tod verantwortlich ist, der in dem vorangestellten Bericht geschildert worden ist, dann bin ich es. Erst viel später erfuhr ich, wie sehr ich mich in den Gefühlen des alten Herrn getäuscht hatte. Nach der beschriebenen Einladung zum Tee sprach ich nur noch zweimal mit ihm, und da die erste der beiden Begegnungen etwa eine Woche nach dieser Einladung stattfand, kann es nur eine Woche oder höchstens zehn Tage vor seinem Tod gewesen sein. Ich traf ihn auf dem Domplatz, und er fragte mich, wo ich die Weihnachtsferien verbringen würde. Ich erzählte ihm, daß ich in der Schule bleiben müsse, da meine Tante und mein Onkel sich für zu alt und gebrechlich hielten, um noch einmal die Verantwortung für mich zu übernehmen. Er sagte nichts, verzog aber nachdenklich das Gesicht. Bis zu seinem Todestag hatte ich dann keine Gelegenheit mehr, mit ihm zu sprechen.
Der Fall Stonex hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt, aber bis vor einigen Monaten hatte ich nie erwartet, mehr darüber zu erfahren, oder das, was ich wußte, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Artikel in der »Daily Mail«
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