Die schwarze Kathedrale
jedoch in Schlägen mit dem Rohrstock auf das Gesäß. Bei solchen Gelegenheiten waren seine Wutausbrüche unerklärlich und nicht weniger unverständlich als der Grund, weshalb es an einem Tag regnete und am nächsten wieder die Sonne schien. Als ich erwachsen wurde, verstand ich seine Bitterkeit und seine Frustration darüber, daß sein Ehrgeiz und seine Hoffnungen mit der Leitung einer kleinen, wenig angesehenen Chorschule in einer abgelegenen Provinzstadt ein Ende gefunden hatten. Später wurde mir auch klar, daß seine unvorhersehbaren Wutanfälle in vielen Fällen darauf zurückzuführen waren, daß er Alkohol getrunken hatte.
Wir lernten sehr wenig, teilweise deshalb, weil wir als Chorsänger so hart zu arbeiten hatten. Wir mußten täglich beim Abendgottesdienst singen, außer am Sonnabend, an dem kein Gottesdienst mit Gesang stattfand. Chorprobe hatten wir täglich eine Stunde lang vor dem Frühstück und noch einmal eine halbe Stunde vor dem Abendgottesdienst. Ich war nicht besonders musikalisch und hatte deshalb schreckliche Angst vor dem Chorleiter, einem jungen Mann, der fest entschlossen war, das Ansehen des Chors zu verbessern, und der uns ganz besonders hart anfaßte. Die Qualität der Musik in der Kathedrale hatte infolge der langen Krankheit des ältlichen Organisten, der jahrelang die alleinige Verantwortung für den Gesang getragen hatte, sehr nachgelassen. (Der Kantor war ebenfalls alt und hatte lange Zeit keinerlei Interesse gezeigt.) Und deshalb hatte die Stiftung, in der Hoffnung auf eine Verbesserung, etwa sieben oder acht Jahre vor meiner Ankunft einen Hilfsorganisten eingestellt, einen Mann, der uns sehr alt vorkam, der aber zu der Zeit, von der ich hier schreibe, noch nicht einmal vierzig war. Seine Anstellung war eigentlich zeitlich begrenzt gewesen, war jedoch regelmäßig verlängert worden, weil der Organist nach wie vor krank war – jedenfalls lautete so die offizielle Begründung. Er spielte bei den Gottesdiensten und unterrichtete uns in Musik und sollte eigentlich den Großteil der Verantwortung des alten Mannes für den Chor übernehmen, doch war er faul und zog es vor, seine Zeit in den Wirtshäusern der Stadt zu verbringen. Obwohl er uns niemals schlug oder sonst etwas antat, hatte er mit seinem seltsam gekrümmten Gang, seiner unordentlichen Kleidung, seinem schiefen Lächeln und seinen sarkastischen Bemerkungen etwas an sich, das uns vor ihm zurückschrecken und ihn sogar noch bedrohlicher erscheinen ließ als den Chorleiter selbst. Letzterer gehörte noch nicht lange zum Personal der Kathedrale und war etwa um die gleiche Zeit eingestellt worden, zu der ich an die Schule kam. Damals hatten die Domherren feststellen müssen, daß der Hilfsorganist nichts dazu beigetragen hatte, die Qualität des Gesangs zu verbessern. Der Chorleiter war der Meinung, daß ich eigentlich gar nicht im Chor sein sollte, und hatte mir mehrfach gesagt, daß ich nicht gut genug für einen Chorknaben sei. Ich konnte ihm darin nur recht geben, aber obwohl ich alles verabscheute, was irgendwie mit dem Chor zu tun hatte, hatte ich wenigstens den Trost, daß ich nicht stotterte, wenn ich sang. Das genügte aber nicht, um mich zu retten; der Chorleiter pflegte mich beim Abendgottesdienst zu demütigen und regelmäßig zu schlagen, wenn er glaubte, daß ich falsch oder – in der Hoffnung, daß er mich nicht hören würde – nur ganz leise gesungen hatte. Er behandelte die anderen Jungen auch nicht besser, aber ich hielt mich für seinen bevorzugten Prügelknaben, weil ich so unmusikalisch war und stotterte. Und deshalb schwänzte ich gelegentlich den Abendgottesdienst, obwohl ich wußte, welche Strafe das nach sich ziehen würde. Der Chorleiter meldete meine Abwesenheit dem Schulleiter, und dieser machte mich dann ausfindig und verprügelte mich. Aber wenigstens hatte ich eine Galgenfrist von einigen Stunden, und die Blutergüsse von den Schlägen verliehen mir einen gewissen Status unter meinen Mitschülern. Manchmal fand ich es sogar erträglicher, verprügelt als gedemütigt und ausgelacht zu werden.
Ich sollte vielleicht noch erwähnen, daß es zwar schon schlimm genug war, vom Schulleiter verdroschen zu werden, daß wir aber nichts mehr fürchteten, als wenn uns der Kanzler hinterher zum Tee einlud, um uns wieder aufzumuntern.
Unser Dasein war insgesamt ziemlich elend. Wir waren in einem düsteren, alten Gemäuer untergebracht, dem ehemaligen Torhaus im Schatten der Kathedrale am oberen Domplatz.
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