Die schwarze Kathedrale
von seinen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Dieser Versuchung erlag Burgoyne niemals, und er duldete dergleichen auch bei anderen nicht. Aber gerade wegen seiner Redlichkeit machte er sich einen mächtigen Feind, den ehrgeizigen Domherrn etwa gleichen Alters namens Freeth, Launcelot Freeth, der damals Subdekan war; ein Mann, der völlig dem Materialismus verfallen war.«
»Ich weiß, wer er war!« rief ich aus.
»So, tatsächlich?« sagte Austin. »Nun ja, jetzt sei erst einmal still und hör mir zu. Vor Burgoynes Ankunft hatte Freeth die Macht des unfähigen, alten Dekans wirkungsvoll untergraben. Er regierte das Kapitel mit Hilfe eines Domherrn namens Hollingrake, des Bibliothekars, eines fähigen Gelehrten, der aber ebenfalls gierig und skrupellos war. Du kannst dir vorstellen, wie sehr diese beiden Männer den Neuankömmling verabscheuten.«
»Ich muß dir sagen«, konnte ich mich nicht enthalten einzuwerfen, »daß ich eine völlig neue Version der Freeth-Affäre gefunden habe.«
»Wie interessant«, meinte Austin höflich. »Aber laß mich mit meiner Geschichte fortfahren, und dann kannst du mir die deine erzählen. Sonst verlieren wir noch beide den Faden. Also: Abgesehen von der persönlichen Abneigung stand noch etwas anderes zwischen Burgoyne und Freeth. Burgoyne war ein gottesfürchtiger, weltabgewandter Mann, der sein Leben mit Beten verbrachte, während Freeth machtgierig war, nichts für die Gelehrsamkeit übrig hatte und sich nur für seinen eigenen, materiellen Vorteil interessierte.«
»Warte einen Moment.« Wieder konnte ich nicht umhin, ihn zu unterbrechen. »Ich habe den Bericht eines Augenzeugen entdeckt, aus dem hervorgeht, daß es Freeth’ Liebe zu den Büchern war, die ihn an jenem schicksalhaften Tag in Konflikt mit den Soldaten geraten ließ.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Austin. »Es passierte wegen seines feigen Fluchtversuchs.«
»Mein Zeuge schildert das anders«, widersprach ich. »Er behauptet …«
»Erzähl mir das, wenn ich mit meiner eigenen Geschichte fertig bin. Sie ist auch ohne deine Unterbrechungen schon kompliziert genug.« Er machte eine schulmeisterliche Pause, bevor er fortfuhr: »Die Domherren jener Zeit waren faul und geldgierig – wie wenig hat sich doch verändert! – und hatten nicht nur zugelassen, daß die Kathedrale gänzlich verfiel, sondern vernachlässigten auch ihre zahlreichen erzieherischen und wohltätigen Pflichten in der Stadt. Burgoyne versuchte, all das zu ändern. Er wollte die Kathedrale restaurieren und sie dann wieder zum religiösen Zentrum machen. Um das nötige Geld dafür aufzubringen, beschloß er, einige Funktionen der Kathedrale aufzugeben, die er für nicht so wichtig hielt, doch verletzte er dabei alteingeführte Interessen und machte sich noch mehr Feinde unter den Domherren. Als Burgoyne einen Teil des Eigentums der Stiftung verkaufen wollte, um zu Geld zu kommen, kam es zum Eklat. Freeth legte ein altes Dokument vor, das ihn daran hinderte, wobei sich dieses allerdings später als Fälschung erwies. Burgoyne hegte bereits einen Verdacht, und das hätte ihm als Warnung dienen sollen, wie skrupellos seine Gegner zu handeln bereit waren. Er hielt jedoch an seinen Absichten fest, und zuletzt setzte er sich durch und kratzte annähernd so viel Geld zusammen, wie er benötigte. Es schien, als habe er triumphiert, doch der Preis dafür war hoch. Auf rätselhafte Weise – wahrscheinlich im Zusammenhang mit all den Intrigen – wurde er zum Mitwisser eines schrecklichen Geheimnisses, und zwar eines so entsetzlichen Geheimnisses, daß der Gedanke daran aus dem zurückgezogen lebenden Mann mit regelmäßigen Gewohnheiten einen schlaflosen Wanderer machte, der die Nächte damit verbrachte, in der verfallenen Kathedrale oder auf dem Domplatz herumzuirren.«
»Ich nehme an, daß du mir gleich sagen wirst, was für ein Geheimnis das war.«
»Das werde ich nicht, denn Burgoyne nahm es mit sich ins Grab. Aber was auch immer es war, es verwandelte den würdigen, respektablen Kleriker in einen Mann, der geistige Höllenqualen litt. Das Geheimnis war wohl sehr gefährlich.«
»Möchtest du damit andeuten, daß er ermordet wurde, damit er nichts verriet?«
»So scheint es. Eines Morgens wurde er zerschmettert in der Kathedrale unter einem Gerüst gefunden, das errichtet worden war, um die Renovierungsarbeiten durchzuführen, die er seinen Kollegen aufgezwungen hatte.«
»So als wäre er für seinen Erfolg gestraft worden?«
»Ein
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