Die schwarze Kathedrale
erfahren, daß sich irgendwo in der Bibliothek des Domkapitels noch ein Manuskript befinden könnte, durch dessen Entdeckung ein faszinierender und überaus wichtiger Gelehrtenstreit ein für allemal beigelegt werden könnte.«
Austin stand auf und ging zum Feuer. Mit dem Rücken zu mir nahm er etwas vom Kaminsims und begann, sich eine Pfeife zu stopfen. Ich hatte ihn noch nie rauchen sehen.
Ich fuhr fort: »Ich war gerade dabei, eine Monographie über Grimbalds ›Leben König Alfreds des Großen‹ zu schreiben, oder korrekter: ›De vita gestibusque Alfredi regis‹. Weißt du etwas davon?«
»Ich glaube nicht«, murmelte er. »Grimbald war ein Kleriker und Zeitgenosse Alfreds, der in Assers sehr viel bekannterem ›Leben Alfreds des Großen‹ erwähnt wird. Sein Bericht ist ein faszinierendes Werk, das diesen bemerkenswerten König auf äußerst bewegende Weise zum Leben erweckt. Möchtest du wissen, warum es nicht so bekannt ist wie das von Asser?«
»Ich nehme an, daß du mir das gleich mitteilen wirst.«
»Weil seine Authentizität immer umstritten war. Aber ich hoffe nun, beweisen zu können, daß es echt ist, und dann selbst eine Biographie Alfreds auf der Grundlage dieses Berichts zu schreiben. Das wäre ein Werk, das, bei aller Bescheidenheit, unsere Vorstellungen vom neunten Jahrhundert revolutionieren würde, denn bei Grimbald findet sich eine Menge hervorragendes Material, von dem die Historiker noch keinen Gebrauch gemacht haben.«
»Weil sie das Ganze für eine Fälschung halten?« fiel Austin mir ins Wort.
»Einige vertreten diese Meinung, vielleicht, weil das Porträt, das Grimbald von dem König zeichnet, ihrem eigenen, selbstgefälligen Zynismus widerspricht. Weißt du, in seinem Bericht wird nämlich geschildert, wie außerordentlich tapfer, einfallsreich und gebildet Alfred war, und auch was für ein großmütiger und vielgeliebter Mann. Er erzählt uns zum Beispiel einiges über seine Freundschaft mit dem großen Gelehrten und Heiligen Wulflac.«
»Wulflac?«
»Er war der Lehrer des Königs, als dieser noch ein Junge war, und somit in einigen der schwierigsten Situationen seines Lebens bei ihm. Bei Grimbald gibt es beispielsweise eine Szene, in der der König und er in der Nacht vor der Entscheidungsschlacht von Ashdown über die Rolle des Königtums diskutieren. Und dann ist da noch ein faszinierendes Kapitel, in dem Alfred, von Grimbald begleitet, die Jungen besucht, die hier in der Abtei von Thurchester studierten. Und vor allem ist Grimbalds Werk unseres Wissens die einzige Quelle über Wulflacs Martyrium.«
Als ich seinen leeren Gesichtsausdruck bemerkte, fragte ich: »Kennst du die Geschichte nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Den Bericht über seine Gefangennahme durch die Dänen?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte er fast schon ein wenig ungehalten.
»Dann will ich sie dir erzählen. Ich hatte gedacht, daß jedes englische Schulkind diese wunderbare Geschichte lernt.«
»Ich kenne die Geschichte von den verbrannten Kuchen.*«
(*Jedes englische Schulkind kennt die Geschichte, wie der verkleidete König auf der Flucht vor den einfallenden Dänen Zuflucht in der Hütte einer alten Frau sucht und von ihr mit dem Auftrag zurückgelassen wird, auf die Kuchen zu achten, die im Ofen backen. Er vergaß die Kuchen, weil er über das Geschick seines Königreichs nachdachte, und wurde hinterher von der alten Frau dafür gescholten.)
Ich lachte. »Das ist eine späte und relativ wirre Überlieferung. Aber die Geschichte vom Martyrium Wulflacs ist ein wahrer Bericht und zudem sehr bewegend. Ich kenne ihn sehr genau, aber ich gehe jetzt Grimbalds Text holen, für den Fall, das ich irgendwelche Einzelheiten vergessen habe.«
»Das wäre natürlich schlimm«, sagte er kopfschüttelnd.
Ich eilte in mein Schlafzimmer und nahm das Buch vom Tisch. Dabei sah ich, daß mein leider ziemlich falsch gewähltes Geschenk für Austin, das von der jungen Dame im Laden sehr hübsch verpackt worden war, gleich daneben lag. Ich nahm beides mit nach unten, und als ich am Treppenabsatz ankam, traf ich zu meiner Überraschung Austin, der gerade die Treppe heraufkam. Als wir wieder ins Wohnzimmer gingen, reichte ich ihm sein Geschenk, und er dankte mir und legte es neben seinen Sessel, bevor er sich wieder hinsetzte. Mein Geschenk befand sich jetzt genau dort, wo vorher das Päckchen gelegen hatte. Ich überlegte, was er wohl damit gemacht hatte, und sah mich im Zimmer um, konnte es aber weder
Weitere Kostenlose Bücher