Die schwarze Kathedrale
weiterer Beweis für seine Ermordung ist die Tatsache, daß der Steinmetz der Kathedrale, ein Mann namens Gambrill, in derselben Nacht verschwand und nie wieder gesehen wurde. Auch er hatte sich mit Burgoyne gestritten. Eine andere mögliche Erklärung für sein Verschwinden und den Tod des Domherrn ist, daß beide Männer von Gambrills Stellvertreter getötet wurden, einem jungen Wanderhandwerker. Dieses Gerücht wurde jedenfalls noch viele Jahre lang in der Stadt verbreitet.«
»Was für ein Motiv hätte Gambrills Stellvertreter denn haben können?«
»Es bestand eine Feindschaft zwischen seiner Familie und Gambrill. Aber jetzt laß mich von dem Geist erzählen, denn schließlich ist dies eine Gespenstergeschichte. Burgoynes Trauergottesdienst in der Kathedrale wurde von einem entsetzlichen Stöhnen gestört, so daß einige der Anwesenden solche Angst bekamen, daß sie davonliefen. Danach hat Burgoynes Geist die Kathedrale viele Jahre lang heimgesucht. Oft hört man ein herzzerreißendes Stöhnen, das von der Gedenktafel kommt, besonders bei starkem Wind. Das ist der Geist, von dem der alte Gazzard fürchtet, daß er durch die jetzigen Bauarbeiten geweckt werden könnte. Und das ist das Ende der Geschichte, die ich dir versprochen hatte.«
»Das ist doch keine richtige Geschichte«, knurrte ich. »Da kommen viel zu viele Ungereimtheiten vor.«
»Ich habe dir doch gesagt, daß es einen Hinweis gibt, wenn auch einen ziemlich rätselhaften.«
»Wirft der ein Licht auf das Geheimnis, von dem Burgoyne erfahren haben soll? Oder darauf, wer ihn ermordet hat?«
»Das hängt von der Interpretation ab. Am Morgen nach dem Mord wurde eine Inschrift an der Wand von Burgoynes Haus, dem heutigen neuen Dekanat, entdeckt. Sie war offensichtlich während der Nacht eingraviert worden – eine erstaunliche Leistung in so kurzer Zeit und nur beim Licht einer Laterne.«
»Und wie lautet die Inschrift?«
»Ich weiß die Worte nicht auswendig, deshalb will ich es dir überlassen, sie selbst zu lesen.«
»Das ist sehr irritierend, Austin. Am liebsten würde ich augenblicklich hinausgehen und sie mir ansehen.«
»Sei nicht so unvernünftig. Du kannst doch nicht mitten in der Nacht in einem fremden Garten herumspazieren.«
»Wer wohnt denn jetzt in dem Haus? Einer der Domherren?«
»Es ist in Privatbesitz. Der Eigentümer ist ein älterer Herr. Warte bis morgen früh, dann kannst du die Inschrift durch das Gartentor entziffern, ohne den Garten betreten zu müssen.«
»Aber ich kann doch nicht am hellichten Tag dastehen und in einen fremden Garten starren.«
»Der Eigentümer hat einige Angewohnheiten, auf die man zählen kann. Geh zwischen vier und halb fünf Uhr hin, da kann ich dir versprechen, daß niemand da sein wird.«
»Ich wüßte gerne, ob es irgendwelche schriftlichen Quellen für diese Geschichte gibt«, sagte ich nachdenklich. »Sie müßten wohl in der Bibliothek des Domkapitels sein. Ich könnte den Bibliothekar fragen, wenn ich ihn morgen sehe.«
Austin warf mir einen raschen Blick zu. »Du triffst Locard? Warum denn das?«
»Wegen meiner Arbeit.«
»Wegen deiner Arbeit? Was hat er damit zu tun?«
»Sehr viel!« Ich lächelte. »Ich hoffe, daß er meine Recherchen in die richtige Richtung lenken kann.«
»Ich dachte, du wolltest zwischen den römischen Erdwällen an der Winchester Street herumkriechen? Was hat das mit Locard zu tun?«
»Du meinst die Befestigungen um Woodbury Castle herum? Die sind vermutlich nicht römisch, obwohl man das bis vor kurzem noch geglaubt hat. Tatsächlich sind sie entweder …«
»Aber lieber Himmel, das, worauf es ankommt, ist: Wirst du dort arbeiten oder nicht?«
»Das war meine Absicht, als ich dir zum ersten Mal geschrieben habe. Weißt du, daß sie noch nie richtig untersucht worden sind? Deshalb haben wir keine Ahnung, ob sie aus der Zeit vor den Römern stammen oder von den Römern oder gar den Angelsachsen gebaut worden sind. Ich selbst …«
»Aber du hast deine Pläne geändert?«
»Habe ich dir in meinem letzten Brief denn nicht mitgeteilt, daß sich eine sehr viel aufregendere Möglichkeit ergeben hat? Ich fürchte, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt und klargestellt, daß es sich um eine vollkommen andere Sache handelt. Ja, natürlich. Darum hast du gemeint, daß das Wetter mich bei meiner Arbeit stören könnte. Und ich dachte, das wäre ein Witz.«
Ich lachte, Austin jedoch fragte mich gereizt: »Wovon redest du?«
»Ich habe erst vor kurzem
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