Die schwarze Kathedrale
geworden war.«
Zu meiner Überraschung zeigte das Gemälde nicht das Abbild eines ehrgeizigen und skrupellosen Mannes, sondern ein sensibles, feines Gesicht. Ich wandte mich zu dem Bibliothekar um. »Wenn Sie mir gesagt hätten, dies sei Burgoyne, wäre ich nicht überrascht gewesen. Es scheint mir sehr viel eher das Gesicht eines aristokratischen Gelehrten als das eines weltlichen und machthungrigen Mannes zu sein.«
»Leider hat Burgoyne sich nie die Mühe gemacht, sich malen zu lassen, und wenn er es doch getan hat, dann ist das Porträt nicht erhalten. Aber Freeth war, trotz all seiner Schwächen, ein außerordentlich verdienstvoller Mann. Er war fähig und fleißig und hat sehr viel für die Stiftung getan. Das, was von Burgoyne überlebt hat, ist nicht sein Ruf, sondern sein Werk als Gelehrter.« Er deutete auf eine Reihe von Bänden in einem alten Bücherregal. »Das hier ist seine Ausgabe syrischer Manuskripte – noch heute der maßgebliche Text. Aber nun gestatten Sie mir, Ihnen einen der ehrgeizigeren Schätze der Bibliothek zu zeigen, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene.« Er ging zu einem großen Glaskasten hinüber, der an einer Wand hing, schloß ihn auf und entnahm ihm ein großes Pergament. »Was würden Sie dazu sagen?«
Ich schaute das Dokument sorgfältig an, sehr darauf bedacht, keinen törichten Bock zu schießen. Es sah wie eine mittelalterliche Urkunde aus, auf Pergament ausgefertigt und in feiner Kanzleihandschrift geschrieben. »Es ist ganz sicher ein juristisches Dokument und stammt, ich würde sagen, aus dem frühen fünfzehnten Jahrhundert.«
»So ist es. Also, der Camerarius Burgoyne wollte Geld flüssig machen, um die Bausubstanz der Kathedrale zu erhalten, die damals in sehr schlechtem Zustand war. Da kam er auf die Idee, eine der Institutionen der Stiftung zu schließen, um die Restaurierungsarbeiten bezahlen zu können.«
»Welche Institution sollte das sein?«
»Die Schule für die Domchorvikare. Eine Schule für Kirchenmusik, in der Knaben und junge Männer nicht nur für den Chor dieser, sondern auch für die Chöre anderer Kathedralen ausgebildet wurden. Burgoyne brachte es fertig, die Mehrzahl der Domherren für diesen Plan zu gewinnen, aber Freeth war dagegen und weigerte sich, seine Niederlage zu akzeptieren, was typisch für ihn war. Er und mein Vorgänger in diesem Amt, ein Mann namens Hollingrake, durchsuchten die alten Akten der Stiftung, und nach ein oder zwei Wochen legten sie ein Dokument vor, das Burgoynes Plan undurchführbar machte. – Übrigens, nehmen Sie sich doch bitte von den Sandwiches und dem Kuchen; meine Frau hat sie gemacht. – Es war das Dokument, das Sie gerade in der Hand halten, die Original-Schenkungsurkunde, datiert im Jahr 1424.«
»Dann hatte ich also recht«, rief ich aus.
Dr. Locard schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Durch diese Urkunde wurde die Stiftung mit einem nahe gelegenen Herrensitz ausgestattet, der aus einem schönen Wohnhaus sowie einigen Bauernhöfen für den Unterhalt der Chorschule bestand. Aber es wurde darin festgesetzt, daß im Fall, daß die Chorschule geschlossen würde, das Land verkauft und der Erlös dem gerade im Amt befindlichen Dekan zu seiner persönlichen Verfügung gestellt werden sollte. Freeth fiel es nicht schwer, den alten Dekan zu der Erklärung zu bewegen, daß er in diesem Fall das Geld beanspruchen und für sich selbst verwenden wolle. Aus diesem Grund wurde Burgoynes Vorschlag schließlich abgelehnt.«
»Wie seltsam, daß die Schenkungsbedingungen derart günstig für den Dekan sind.«
Dr. Locard lächelte. »Wirklich seltsam. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß das Dokument eine Fälschung ist?«
Ich spürte, wie ich errötete. »Ja, natürlich, aber eine sehr überzeugende.«
»Das dürfte daran liegen, daß es sich höchstwahrscheinlich um eine Kopie des Originaldokuments handelt. Der Fälscher hat nur – in bemerkenswert schlechtem Latein übrigens – eine Klausel hinzugefügt, durch die derjenige, der das Amt des Dekans innehatte, jeweils persönlich bedacht wurde.«
»Existiert das Originaldokument noch?«
Dr. Locard lächelte. »Der beste Beweis für eine Fälschung ist stets das Original, auf dem es basiert. Da es den Beweis dargestellt hätte, daß dieses hier eine Fälschung ist, können Sie sicher sein, daß es vernichtet wurde.«
»Nehmen Sie an, daß Hollingrake der Fälscher war? Übrigens, dieser Kuchen ist wirklich köstlich!«
»Als Freeth Dekan wurde, gab er
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