Die schwarze Kathedrale
Dr. Locard nichts davon gesagt hatte, obwohl ich mich erinnerte, wie geringschätzig er über die Versuche von Amateuren geredet hatte. Dann fiel mir ein, daß Dr. Sisterson Sheldricks Arbeit erwähnt hatte, als wir uns in der Kathedrale begegnet waren. »Das haben Sie mir gestern abend erzählt.« Ich wandte mich an den älteren Herrn: »Haben Sie nicht gestern abend einen Empfang zur Feier der Veröffentlichung gegeben?«
Es trat beklommenes Schweigen ein. Offenbar hatte ich ein unangenehmes Thema berührt.
»Ich würde Ihre Geschichte sehr gern lesen, Dr. Sheldrick«, sagte ich rasch. »Umfaßt sie auch die Zeit von Burgoyne und Freeth?«
»Sie reicht nur bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts zurück«, erwiderte Dr. Sheldrick.
Zu meinem Erstaunen bot er nicht an, mir ein Exemplar seines Buches zu geben – eine selbstverständliche Höflichkeit unter Wissenschaftlern.
»Dr. Sheldrick hat aber bereits den Entwurf des nächsten Bandes geschrieben, der auch die Zeit des Bürgerkriegs beinhaltet«, sagte Dr. Sisterson. »Tatsächlich habe ich diesen Entwurf in meinem Besitz, weil er so freundlich war, mich zu bitten, ihn zu lesen und ihm mit meinem bescheidenen Rat behilflich zu sein.«
»Ich erwarte die Veröffentlichung mit dem größten Interesse.«
Dr. Sisterson warf seinem Kollegen einen Blick zu. »Dürfte ich Dr. Courtine den Entwurf leihen?«
»Ich wüßte nicht, was dagegenspricht«, antwortete der Kanzler ziemlich ungnädig.
»Er ist in meinem Büro«, teilte mir Dr. Sisterson mit. »Haben Sie Zeit, mich kurz dorthin zu begleiten?«
Ich brachte meine Einwilligung und meine Dankbarkeit gegenüber beiden Herren zum Ausdruck. Wir verabschiedeten uns von Dr. Sheldrick und gingen zum Büro des Domkustos.
»Der Kanzler ist heute ein bißchen irritiert«, erklärte Dr. Sisterson, als der andere außer Hörweite war. »Es hat einen ziemlich unangenehmen Zwischenfall gegeben, gestern abend während …«
»Entschuldigen Sie«, fiel ich ihm ins Wort. »Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber könnten Sie mir sagen, wer diese Dame ist?«
Die Frau, die ich gesehen hatte, als ich die Bibliothek verließ, um zum Mittagessen zu gehen, war gerade auf der anderen Seite des Domplatzes entlanggekommen, und zwar so, daß sie Dr. Sheldricks Weg kreuzen mußte. Und als die beiden im rechten Winkel aufeinandertrafen, blieb sie stehen, um mit ihm zu reden.
»Das ist Mrs. Locard«, sagte er mit einem Lächeln. »Eine ungeheuer nette Dame und eng mit meiner Frau befreundet.«
»Und mit Dr. Sheldrick auch, soweit ich sehe«, fügte ich ziemlich boshaft hinzu. »Er läßt sich tatsächlich zu einem Lächeln hinreißen.«
Dr. Sisterson sah sich um und lachte im Weitergehen. »Sie haben vollkommen recht. Jeder hat sie gern.«
Kurz darauf standen wir in Sistersons Büro, und er reichte mir einen dicken Stapel von Papieren, die, wie ich sehen konnte, in einer sauberen, wenn auch etwas uneleganten Handschrift beschrieben waren.
Ich konnte mir meinen Kommentar nicht verkneifen: »Ich finde es erstaunlich, daß Dr. Locard Dr. Sheldricks Arbeit nicht erwähnt hat, als ich ihn heute morgen nach der Geschichte der Stiftung gefragt habe.«
Dr. Sisterson lächelte und drohte mir scherzhaft mit dem Finger. »Aber, aber, Dr. Courtine. Bringen Sie mich nicht in Versuchung, mich zu einer Indiskretion hinreißen zu lassen.«
Ich lachte, dankte ihm für Sheldricks Entwurf, klemmte ihn unter den Arm und verabschiedete mich.
Gegen zwei Uhr war ich wieder an der Arbeit in meinem staubigen Keller. Nach kurzer Zeit erschien auch Pomerance und schenkte mir eine halbe Stunde seiner Zeit, aber er war so ungeschickt und vergeßlich, daß er mir mehr Mühe machte als nützte, und ich schließlich erleichtert war, als er davonmarschierte, um seinen Tee zu trinken.
Etwa um drei Uhr kam Quitregard herunter, um mir zu sagen, daß Dr. Locard fragen ließ, ob ich eine Tasse Tee mit ihm trinken wolle. Erleichtert, dem staubigen Keller zu entkommen, nahm ich die Einladung an.
Der Bibliothekar stand auf, als ich sein Zimmer betrat. Auf seinem Schreibtisch standen eine Teekanne und zwei Tassen, dazu eine Platte mit Sandwiches und eine zweite mit Kuchen.
»Da wir heute morgen von Freeth gesprochen haben«, meinte er, »könnte es von Interesse für Sie sein, ein Porträt von ihm zu sehen.« Er deutete auf ein Ölgemälde, das neben dem Fenster hing. Ich ging hinüber, um es zu betrachten.
»Es entstand wenige Monate, nachdem er Dekan
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