Die schwarze Kathedrale
Lohn war groß, und von dieser Überlegung entflammt begann ich, mich durch Stapel staubiger Manuskripte zu kämpfen. Der junge Pomerance war nicht besonders hilfreich, weil er keine Sprache außer seiner eigenen beherrschte und weil es ihm auch an den paläographischen Kenntnissen fehlte, die notwendig gewesen wären, um die Buchstaben der alten Manuskripte einigermaßen entziffern zu können. Aber ich fand seine Dienste nützlich, wenn es darum ging, die gewaltigen, von Spinnweben bedeckten Papier- und Pergamentbündel von den Regalen herunterzuholen und ein wenig zu reinigen, bevor ich sie mir ansah.
Nach etwa zwei Stunden ließ Pomerance mich mit der Begründung allein, daß es Zeit für sein Mittagessen sei. Als ich um ein Uhr aus dem Keller auftauchte, war Dr. Locard nirgendwo zu entdecken, aber ich nickte Quitregard zu, der zurücklächelte. Ich stieg die Stufen vor der Bibliothek hinunter und begegnete einer Dame, die gerade heraufkam. Sie war groß und schlank, und obwohl sie nur wenige Jahre jünger zu sein schien als ich, war sie noch immer eine schöne Frau mit feinen Zügen und strahlenden grauen Augen. Sie erinnerte mich an jemanden, doch fiel mir im Augenblick nicht ein, an wen. Wir tauschten das Lächeln von Fremden, die vermuten, daß sie irgendwie etwas miteinander zu tun haben und sich deshalb wahrscheinlich bald kennenlernen würden.
Mittwoch nachmittag
Ich begab mich zu dem respektabelsten Wirtshaus, das ich in der High Street entdecken konnte, dem »Dolphin«, und nahm ein schnelles Mittagessen ein. Danach ging ich durch das alte Torhaus auf der Nordseite auf den Domplatz zurück und warf im Vorbeigehen einen Blick durch eines der kleinen Sprossenfenster in ein großes Schulzimmer, in dem etwa zwanzig Jungen saßen. Es mußte zur Courtenay’s Academy gehören. Bei dem Anblick überfielen mich lebhafte Erinnerungen – an die flackernden Gaslampen, den Geruch nach Tafel und Kreide. Mit einem Seufzer dachte ich an meine eigene, längst vergangene Schulzeit zurück, und während ich über den Domplatz eilte, ließ ich eines der wichtigsten Hilfsmittel des Historikers, meine Vorstellungskraft, spielen. Am Ende der Platzes blieb ich stehen und überlegte. Das alte Gemäuer, vor dem ich mich jetzt gerade befand, war ursprünglich das Haus von Burgoyne gewesen, dann aber das neue Dekanat geworden. Hier war der Dekan wenige Minuten vor seinem Tod so eilig herausgelaufen. Und dann war er ohne Zweifel durch genau diese Tür ins Kloster gegangen – oder auch geschleppt worden. Ich war so sehr damit beschäftigt, mir diese Szene auszumalen und mir zu überlegen, ob ich es wagen sollte, die Inschrift an der Hauswand zu lesen, daß ich gar nicht wahrnahm, daß jemand vor mir stand und versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Es war der junge Domkustos, und er wurde von einem anderen, sehr viel älteren Mann begleitet, der ebenfalls das Gewand eines Geistlichen trug.
»Bitte entschuldigen Sie, Dr. Sisterson«, sagte ich. »Ich war ganz in Gedanken versunken. Ich habe versucht, die Ereignisse jenes Tages im September 1643 vor meinem geistigen Auge ablaufen zu lassen, auf Grund deren die Domfreiheit von Thurchester einen Ehrenplatz in der Liste der Schauplätze von Greueltaten erhielt.«
»Das ist ja eine ganz neue Vorgehensweise«, meinte der andere Mann trocken. »Damit könnte sich ein Historiker eine Menge mühseliger Recherchen ersparen.«
Dr. Sisterson lachte und erklärte: »Dr. Courtine, das ist Dr. Sheldrick, der Leiter unserer Kanzlei.«
Ich reichte ihm die Hand, und als ich mein College nannte, sagte Dr. Sheldrick: »Dann müssen Sie meinen jungen Cousin, den Honourable George de Villiers kennen. Er ist Student an diesem College und bereitet sich gerade auf das letzte Examen in klassischer Philologie vor.«
»Natürlich habe ich von ihm gehört; ich selbst unterrichte allerdings Geschichte.«
»Ihr Werk und Ihre Reputation sind mir bestens bekannt, Dr. Courtine«, erwiderte er in vernichtendem Ton, als wolle er mich maßregeln. »Ich selbst bin auch so eine Art Historiker.«
»Das sind Sie wahrhaftig, Herr Kanzler«, sagte Dr. Sisterson. Dann wandte er sich an mich: »Dr. Sheldrick schreibt nämlich die Geschichte der Stiftung. Der erste Band ist gerade veröffentlicht worden.«
»Ach ja?« Mir ging durch den Kopf, wie seltsam es war, daß Austin dieses Werk nicht erwähnt hatte, als wir über Quellen zur Geschichte Burgoynes gesprochen hatten. Und noch seltsamer war es, daß auch
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