Die schwarze Kathedrale
doch herein.«
Er stieß das Tor auf und trat lächelnd zur Seite, um mich eintreten zu lassen. Immer noch rot vor Verlegenheit folgte ich seiner Aufforderung.
Er war nicht einmal mittelgroß und schlank, obwohl man letzteres nicht mit Sicherheit sagen konnte, weil er in einen schweren Mantel gehüllt war und sich einen dicken Schal um den Hals gebunden hatte. Unter einem altmodischen Hut sah ich ein ausdrucksvolles Gesicht, das ebenso wachsam wie amüsiert aussah. Die Züge waren fein, die Haut blaß und die Wangen glatt. Das Auffallendste in diesem Gesicht war ein Paar leuchtendblauer Augen, die unverwandt auf mich gerichtet waren.
»Ich bitte Sie sehr herzlich um Verzeihung, Sir. Ich hatte keine Ahnung, daß jemand hier ist.«
»Ich bin ein närrischer alter Mann, mich bei diesem Wetter hier draußen aufzuhalten, aber ich wollte unbedingt noch etwas Stroh über die Pflanzen decken. Ganz sicher wird es heute nacht noch strengeren Frost geben.«
Mir fiel auf, daß auf allen Fensterbrettern Blumenkästen standen.
»Ich habe gesehen, wie Sie versuchten, die Inschrift zu lesen«, sagte er immer noch lächelnd.
»Es war unverzeihlich von mir, auf diese Weise in Ihren Besitz einzudringen.«
»Aber nein, ganz und gar nicht! Ich bin sehr stolz auf diese Inschrift. Und auf dieses ganze alte Gebäude. Ich habe das Glück, in einem sehr eigenartigen alten Haus zu leben, in dem sich viele seltsame und schreckliche Dinge ereignet haben, und da scheint es mir ein geringer Preis, daß gelegentlich Fremde ihr Interesse daran bekunden.«
»Sie sind sehr großzügig. Ich bitte noch einmal höflichst um Entschuldigung.«
»Aber ich meine doch nicht Sie, mein Herr. Die Leute versuchen nämlich auch, mir durch meine Fenster auf der Vorderseite zu spähen, verstehen Sie?«
»Das muß unerträglich sein. Ich kann es Ihnen nachfühlen, denn ich lebe in einem College in Cambridge, und meine Räume sind Gegenstand eines ähnlichen Interesses.«
»Sie sind einer der höflichsten von allen Fremden, die je versucht haben, diese Inschrift zu lesen. Ich hatte schon befürchtet, Sie würden vornüberfallen in Ihrem Bemühen, Ihren Fuß nicht über die Schwelle zu setzen.«
»Ich muß eine sehr lächerliche Figur gemacht haben.«
Er trat ein paar Schritte vor und hob die Laterne. »Können Sie sie jetzt lesen?«
Die Buchstaben waren verwittert und an einigen Stellen, wo der Stein angeschlagen war, ganz verschwunden. Aber der alte Herr kannte die Worte auswendig, und gemeinsam entzifferten wir nun den Text der Inschrift:
Alle Dinge drehen sich im Kreise, und der Mensch, der zur Arbeit geboren ist, dreht sich mit ihnen. Wenn die Zeit reif ist, werden darum die, welche erhöht sind, erniedrigt werden, und alle, die niedrig sind, werden erhöht werden. Dann wird der Schuldige in Stücke geschlagen und vor die Füße des Unschuldigen geworfen werden, und im Augenblick des Triumphes werden alle von ihrer eigenen künstlichen Erfindung vernichtet werden. Denn wenn die Erde erbebt und die Türme erzittern, wird das Grab sein Geheimnis preisgeben, und alles wird offenbar werden.
Das ist wirklich geheimnisvoll, dachte ich, als ich versuchte, mir die Worte einzuprägen.
»Kennen Sie die Geschichte, die dieser Inschrift zugrunde liegt?« wolle der alte Herr wissen.
»Man hat mir erzählt, daß sie in der Morgendämmerung nach dem Tod des Camerarius Burgoyne gefunden wurde und daß darin der Steinmetz der Kathedrale, Gambrill, beschuldigt wird, der Mörder zu sein.«
Der alte Herr nickte. »So wie die Geschichte in meiner Familie überliefert wurde, hat Gambrill selbst die Inschrift des Nachts als Geständnis in den Stein gehauen.«
»Mir fällt es schwer«, meinte ich, »sie so zu verstehen, denn der Ton klingt eher rachsüchtig und triumphierend als reumütig.«
»Das ist wahr«, stimmte er mir zu. »Aber vielleicht war Gambrill ja der Meinung, daß er Grund habe, sich mit dem Mord zu brüsten. Ganz sicher bezieht sich der Satz mit dem Hohen und dem Niedrigen auf den aristokratischen Camerarius und den niedriggeborenen Steinmetzen.«
Ich nickte und dachte mir, daß die Anspielung auch gut zu einer Idee paßte, die mir wegen etwas, das Austin geäußert hatte, an diesem Morgen beim Frühstück gekommen war. »Auf welche Weise wurde Burgoyne getötet?«
»Das ließ sich nie mit Sicherheit feststellen. Er wurde unter einem eingestürzten Gerüst gefunden, das errichtet worden war, um die Gedenktafel für seine eigene Familie anzubringen.
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