Die schwarze Kathedrale
während er das Dokument wieder auf seinen Platz legte, sagte er mit dem Rücken zu mir: »Als ich davon sprach, daß Sie mit uns essen sollten, hatte ich keine Ahnung, daß Sie zu Besuch bei einem Freund sind. Ich könnte mir vorstellen, daß Fickling andere Pläne mit Ihnen hat. Ich möchte Sie nicht in eine unangenehme Situation bringen.«
»Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen«, murmelte ich. »Ja, ich glaube, Fickling hat etwas davon gesagt, daß wir morgen zusammen essen wollen.«
»Ich hoffe, daß Sie vielleicht bei einer anderen Gelegenheit …«
»Gewiß, gewiß, Dr. Locard. Ich werde jedoch die Ehre haben, Sie morgen früh um halb acht zu sehen. Darauf freue ich mich sehr.« Er starrte mich an, ohne etwas zu sagen, aber dann nickte er plötzlich.
Ich dankte ihm noch einmal für den Tee und kehrte in den Keller zurück. Während ich mich wieder an die Arbeit machte, dachte ich wehmütig über die Tücken der Kathedralpolitik nach. Ganz offensichtlich hatte die Tatsache, daß ich ein Freund von Austin war, mich zum Evangelisten gestempelt.
Etwa eine halbe Stunde später, als ich die Hoffnung, daß Pomerance noch einmal auftauchen würde, bereits aufgegeben hatte, kam er plötzlich mit einer Lampe die Treppe herunter. »Ah, da sind Sie ja«, sagte ich. »Ich hatte Sie eigentlich früher erwartet.«
»Der Chef hat entschieden, daß er mich heute nachmittag oben braucht.«
»Nun gut, aber da Sie jetzt einmal hier sind: Wären Sie so freundlich, diese großen Bündel vom obersten Regal herunterzuholen?«
»Es tut mir leid, aber ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, daß es gleich zwanzig nach vier ist und daß die Bibliothek jeden Moment schließt.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß es schon so spät ist!« Im Laufe des Tages hatte ich den Inhalt von vier Regalen – von insgesamt rund sieben- oder achthundert – durchgesehen. Die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens lastete schwer auf mir, als ich meine Lampe ergriff, mir das Manuskript, das Dr. Sisterson mir geliehen hatte, unter den Arm klemmte und dem jungen Mann die Treppe hinauf folgte.
Abgesehen von einer einzigen Lampe am Eingang lag die Bibliothek in vollkommener Dunkelheit und wie verlassen da.
»Ist Dr. Locard in seinem Zimmer? Ich würde mich gerne von ihm verabschieden.«
»Nein, er ist nach Hause gegangen.«
»Und Quitregard?«
»Der ist mit ihm gegangen. Er begleitet ihn oft, um ihm bei seinen Geschäften für das Domkapitel behilflich zu sein.«
Der junge Mann öffnete mir die Tür, und ich sagte ihm auf Wiedersehen. Ich wollte noch etwas erledigen und befürchtete, daß es bald zu dunkel sein würde. Deshalb hastete ich an der Kathedrale entlang zur Rückseite des neuen Dekanats. Es war ein großer, verschachtelter alter Bau mit Giebeln und Sprossenfenstern und langen Kaminen, die aussahen wie gedrehte Pfefferminzstangen. Eine hohe Mauer trennte es vom Domplatz, und ich ging zum Tor, um durch die Eisenstangen zur Rückwand zu sehen. Ich konnte eine große schwarze Marmorplatte erkennen, die in die Ziegelwand eingelassen war. In diese Platte waren Worte gemeißelt, doch im verblassenden Abendlicht und aus solcher Entfernung war es unmöglich, sie zu lesen. Ich mußte mich über das Tor lehnen und weit vorbeugen, um die Schrift zu entziffern. Ich war mir bewußt, welch einen absurden Anblick ich bot, obwohl glücklicherweise niemand da war, der mich hätte sehen können. Außerdem lief ich Gefahr, den Halt zu verlieren, denn Dr. Sheldricks Manuskript, das ich unter den Arm geklemmt hatte, behinderte mich zusätzlich. Ich bemerkte, daß das Tor nicht verschlossen war, wollte es aber nicht öffnen und einfach hineingehen.
Plötzlich sah ich ein Licht, das sich wenige Meter von mir entfernt bewegte. Jemand schwenkte eine Laterne, und ich erkannte einen Mann im Garten. Ich war ebenso überrascht wie verärgert, schließlich hatte Austin mir versichert, daß zu dieser Tageszeit niemand zu Hause sein würde. Bevor ich mich zurückziehen konnte, wurde der Lichtstrahl in meine Richtung gelenkt, und ich hörte eine hohe Stimme, die so auffallend war, daß ich sie lange im Gedächtnis behalten und viel darüber nachdenken sollte: »Ich sehe Sie. Bitte genieren Sie sich nicht. Kommen Sie herein, das Tor ist nicht verschlossen.«
Ich entschuldigte mich verwirrt und lehnte die Einladung dankend ab, aber der alte Herr – der Stimme nach mußte es ein alter Herr sein – kam auf das Tor zu und sagte: »Genieren Sie sich nicht. Kommen Sie
Weitere Kostenlose Bücher