Die schwarze Kathedrale
sicheren Versteck sein mußte. Selbst wenn also jemand in das Haus eindringen würde, würde er weder das Versteck noch den Schlüssel dazu finden. Aber was konnte er haben, das er verstecken mußte? Ich dachte immer noch über diese Frage nach, als ich das Haus erreichte. Ich drückte auf die Klinke und öffnete die Tür, aber irgend etwas hemmte die Bewegung, und ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Auf dem Fußboden lag ein Blatt Papier. Ich hob es auf, trug es ins Eßzimmer und drehte die Gaslampe hoch. Auf dem Blatt stand geschrieben:
Bitte sorge heute selbst für dein Abendessen. Ich bin wegen einer unaufschiebbaren Angelegenheit aufgehalten. Ich werde gegen zehn Uhr zurück sein.
Die Kürze und Unhöflichkeit des Schreibens überraschte mich. Er gab keine Erklärung ab und entschuldigte sich auch nicht für seine mangelnde Gastlichkeit. Wenn es tatsächlich Austin gewesen war, den ich vor ein paar Minuten auf dem Domplatz gesehen hatte, warum war er dann wortlos davongerannt, wenn er mir etwas zu sagen hatte?
Ich legte Hut und Mantel ab, schenkte mir ein Glas Sherry ein und setzte mich an den Tisch. Ich war mir sicherer denn je, daß Austin in irgendeine Intrige verstrickt war. Ich wußte zwar wenig über sein Leben hier, aber wie konnte er sich in dieser trübseligen Kleinstadt wohl fühlen, er, der einmal ein Senior Wrangler , der Gewinner des wichtigsten Mathematikpreises in Cambridge, mit brillanten Zukunftsaussichten gewesen war? Ich hatte ihm mehr als eine Gelegenheit gegeben, sich mir anzuvertrauen. War es ein Irrtum zu glauben, daß er mich eingeladen hatte, weil er mich um Rat fragen wollte? Und wenn dem so war, irrte ich mich bezüglich der Reihenfolge der Ereignisse, und er hatte mich eingeladen, bevor dieses Problem – was auch immer es sein mochte – begonnen hatte, ihn zu beschäftigen, so daß er jetzt feststellte, daß er weder Zeit noch Gedanken für mich übrig hatte? Aber warum hatte er dann seine Einladung nicht rückgängig gemacht? Oder, wenn er mich gerade nicht brauchen konnte, warum hatte er mir dann nicht gestattet, in ein Hotel zu ziehen, als ich ihm diese Möglichkeit angeboten hatte? Mich einzuladen und dann so seltsam zu behandeln war unerklärlich. Je länger ich über die Unhöflichkeit seiner Nachricht nachdachte, um so ungehaltener wurde ich. An diesem Abend hatten wir in einem Lokal in der Stadt zusammen zu Abend essen wollen, und ich hatte gehofft, daß es uns endlich gelingen würde, zu einem besseren Verständnis zu kommen.
Plötzlich drang ein dumpfes Dröhnen in meine Gedanken. Die Uhr der Kathedrale schlug halb sieben. Wie unentrinnbar man doch durch die Nähe der Kathedrale an das Verstreichen der Zeit erinnert wurde. Das ruhige Leben im College hatte mich diesen Umstand fast vergessen lassen. Irgendwie hatte das alljährliche, turnusgemäße Eintreffen einer neuen Kohorte junger Männer mein Bewußtsein für das Vergehen der Zeit abgestumpft. In gewissem Sinn hatte ich mich selbst immer noch für relativ jung gehalten, so als hätte ich noch mein ganzes Leben vor mir. Und doch wußte ich, daß das eine Illusion war. Ich war beinahe fünfzig Jahre alt, und die Würfel waren gefallen. Zum Guten oder Schlechten, mein Leben war bereits in eine feste Form gepreßt, die es bis zu meinem Tod beibehalten würde.
Ich stellte fest, daß ich Hunger hatte, und stand auf. Mein Blick fiel auf Dr. Sheldricks Manuskript, das ich vor mir auf den Tisch gelegt hatte, und ich beschloß, es mitzunehmen und während meines einsamen Abendessens darin zu lesen. Ich klemmte es unter den Arm, verließ das Haus und ging zur High Street. Als Gewohnheitsmensch lenkte ich meine Schritte zum »Dolphin«.
Mittwoch abend
Ich war der einzige Gast in dem großen, düsteren Speisesaal und wurde von einem melancholischen Kellner mit so trauriger Feierlichkeit bedient, als sei er der letzte Priester einer sterbenden Kirche. Das Ambiente paßte genau zu dieser alten, verfallenden Stadt mit ihren unbeleuchteten, holprigen Straßen, in denen kaum je eine Menschenseele unterwegs zu sein schien. Ich vermutete, daß Thurchester sich nie von dem Schaden erholt hatte, den das Wirtschaftsleben einst durch die Belagerung während des Bürgerkriegs genommen hatte. Diese Überlegung ließ mich wieder an meine Begegnung mit jenem seltsamen alten Mann denken, der mir die Inschrift gezeigt hatte.
Mir fielen wieder die geheimnisvollen Worte ein: »Wenn die Zeit reif ist, werden die, welche erhöht sind,
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