Die schwarze Kathedrale
erniedrigt werden« – denn als ich sie gelesen hatte, war mir Austins Traum noch frisch in der Erinnerung gewesen, und mir war der Gedanke gekommen, daß sie sich auf Gambrills Mord am Vater des Wanderhandwerkers Limbrick beziehen könnten. War die Inschrift eine Beschreibung dieses Mordes? Oder ein Geständnis von Gambrill, bei dem Unfall, der ihn ein Auge gekostet hatte, seinen Rivalen vom Dach der Kathedrale gestoßen zu haben? Es war unsinnig anzunehmen, daß die Inschrift tatsächlich von Gambrill selbst gefertigt worden war. Trotzdem hätte ich viel darum gegeben, auf das Dach der Kathedrale zu steigen, um den Unglücksort selbst in Augenschein zu nehmen. Austin hatte gesagt, daß die Inschrift sich auf das Geheimnis beziehe, von dem Burgoyne so besessen gewesen war, und so versuchte ich, in der biblischen Phraseologie einen Hinweis auf die Natur dieses Geheimnisses zu entdecken. Aber meine Bemühungen blieben fruchtlos, und ich überlegte, ob Dr. Sheldricks Entwurf vielleicht ein wenig Licht in das Dunkel dieses Falles bringen würde.
Ich suchte also nach der Beschreibung jener Ereignisse in Sheldricks Manuskript, während ich über meinem fettigen Lammkotelett und dünnem Rotwein saß. Der Entwurf war nicht gut geschrieben – schwerfällig, pedantisch und oft pompös –, aber die Geschichte, die er darin erzählte, war faszinierend. Ich überflog sie zuerst, um sie dann noch einmal mit großer Sorgfalt zu studieren. Manches von dem, was Dr. Sheldrick dem Leser enthüllte, war sehr überraschend, besonders das Geheimnis, das Burgoyne angeblich zu verraten gedroht hatte. Ich konnte Dr. Locards Spott über die unwissenschaftliche Arbeit verstehen, denn Sheldrick verabsäumte es häufig, seine Quellen zu nennen, und schien sich in vielen Fällen auf unbewiesene, mündliche Überlieferungen zu verlassen.
Als ich gegessen hatte, hatte ich noch keine Lust, zu Austin nach Hause zurückzukehren. Also ging ich in die Bar, wo ich mich hinsetzte und mir einen Cognac bestellte. Die einzigen Gäste außer mir waren zwei alte Männer, die in einer Ecke verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten. Ich überlegte, ob ich eine offene Aussprache mit Austin herbeiführen und ihn direkt fragen sollte, ob es ihm lieber wäre, wenn ich sein Haus verließe. Ich könnte ihn außerdem fragen, ob seine Schuldgefühle wegen all dem, was er mir angetan hatte, der Grund für sein seltsames Betragen seien. Meine Gedanken bewegten sich im Kreise, und ich sagte mir, daß es sehr töricht von mir gewesen war, zu glauben, daß meine Freundschaft mit Austin wieder zum Leben erweckt werden könnte. Zuviel Zeit war verstrichen, und die Wunden waren noch immer nicht verheilt. Es war mir gar nicht bewußt gewesen, wie schmerzhaft die Vergangenheit noch immer für mich war. Zudem war Austin nicht mehr der Mann, den ich einst gekannt hatte. Ich ließ mir durch den Kopf gehen, wie eigenartig manche Dinge gewesen waren, die er in der kurzen Zeit gesagt und getan hatte, die ich mit ihm verbracht hatte. Er war auf eine Art hinterhältig, die ich von ihm nicht kannte. Als junger Student war Austin so offen, so impulsiv und verletzlich gewesen. War ein verschlagener Intrigant aus ihm geworden? Es fiel mir ein, wieviel er trank, wie schnell er aufbrauste und auch, wie er am frühen Abend auf dem Domplatz herumgeschlichen war. Es war, als ob etwas Fremdes ihn überkommen hätte, als ob irgendeine dunkle Macht ihn in ihre Gewalt gebracht hätte.
Zu den beiden anderen Zechern hatte sich mittlerweile ein junger Mann gesellt. Ich hatte nur halb auf ihre Konversation geachtet, bis sie begannen, mit erhobener Stimme zu sprechen, so daß ich plötzlich aus meinen Gedanken aufgeschreckt wurde. Einer der älteren Männer, der einen abgetragenen Hut schief ins Gesicht gezogen hatte, sagte erbost: »Sie hätten gar nicht erst daran rühren sollen. Man kann nie wissen, was in einem so alten Gebäude passiert. Man soll die Finger davon lassen, das ist meine Meinung.«
»Du redest wie der alte Gazzard«, erwiderte der junge Mann. »Der ist gegen alles Neue. Und jetzt freut er sich wie ein Schneekönig.«
»Ich wette, daß es die alten Abwasserleitungen sind. Die sind Hunderte und Hunderte von Jahren alt. Da haben sie seit ewigen Zeiten alles mögliche drin versteckt.«
»Stell dich nicht dümmer, als der liebe Gott dich geschaffen hat«, sagte der andere Alte und nahm die Pfeife aus dem Mund. »In der Kathedrale gibt es keine Abwasserleitungen.«
»Vielleicht
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