Die schwarze Kathedrale
Das Erstaunlichste ist, daß Gambrill die schwere Gedenktafel in der Mordnacht an ihrem Platz hoch oben in die Wand eingelassen hatte.«
»Ganz allein?«
»Offenbar ja. Und dann soll Gambrill hierhergekommen sein und noch kurz vor der Morgendämmerung diese Inschrift gefertigt haben.«
»In der Nacht, und ohne daß ihn jemand gehört hätte?« fragte ich lächelnd.
Die Laterne gab gerade genug Licht, daß ich erkennen konnte, daß der alte Herr ebenfalls lächelte. »Nun ja, das ist jedenfalls die Erklärung, die meine Vorfahren über zweihundert Jahre lang akzeptiert haben.«
»Wie ist das Haus in den Besitz Ihrer Familie gekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Der Domherr und Camerarius oder Schatzmeister, der Burgoynes unmittelbarer Vorgänger war, hatte eine Menge Geld dafür ausgegeben, es zu vergrößern und zu verbessern, und zwar Geld, das er während seiner Amtszeit angesammelt hatte.«
»Sie meinen, daß er Geld der Stiftung unterschlagen hat?«
»Ja, oder besser gesagt, veruntreut, wenn Sie mir die Pedanterie des Bankiers verzeihen wollen.« Der alte Herr kicherte. »Kurz nach Burgoynes Tod wurde ein neuer Dekan ernannt. Und weil dies das größte und schönste Haus am oberen Domplatz war, überredete er das Domkapitel dazu, es zum neuen Dekanat zu erklären, sehr zum Ärger des damaligen Schatzmeisters.«
»Der Dekan war Launcelot Freeth, nicht war?«
»Sie sind gut informiert!« rief der alte Herr aus. »In diesem Fall werden Sie sicher verstehen, daß sich das Domkapitel nach seinem Tod entschloß, dieses Haus wegen des Unglücks, das daran haftete, zu verkaufen und wieder auf das alte Dekanat zurückzugreifen. Es wurde 1664 von meinem Urgroßvater James Stonex erworben, der den ursprünglichen Namen beibehielt.«
»Dann wurde der Dekan also vor seiner Ermordung durch dieses Tor geschleppt?« fragte ich und warf einen Blick zurück.
»Er ist ohne Zweifel durch dieses Tor gekommen, aber zu seiner Hinrichtung ist er aus eigenem, freiem Willen gegangen.«
»Aus freiem Willen? Und warum sprechen Sie von einer Hinrichtung? Sein Tod gilt als einer der schändlichsten Morde in der Geschichte.«
»Nicht nach der Überlieferung, die in meiner Familie zusammen mit dem Haus weitervererbt wurde.«
»Ich wäre brennend daran interessiert, davon zu hören.«
»Jetzt habe ich leider keine Zeit«, sagte er entschuldigend. »Zu dieser Stunde pflege ich immer zu essen. Wegen meines Berufes halte ich einen etwas seltsamen Zeitplan ein. Aber kommen Sie übermorgen zum Tee, dann erzähle ich Ihnen die wahre Geschichte, wie der Dekan zu Tode kam.«
»Das ist ganz außerordentlich freundlich von Ihnen.«
»Sehr gut, dann ist es also abgemacht. Ich werde Sie kurz nach halb fünf erwarten. Aber seien Sie bitte pünktlich, denn ich lebe streng nach der Uhr, und um sechs muß ich ins Büro.«
Ich versicherte ihm, daß ich pünktlich zur Stelle sein würde. Einen peinlichen Moment lang standen wir beide schweigend da, dann sagte er: »Ich fürchte, ich kann Sie im Augenblick leider nicht hereinbitten.«
»Nein, natürlich nicht, das verstehe ich gut«, gab ich ziemlich verwirrt zurück.
Mit einer seltsam unhöflichen Geste öffnete er das Gartentor, lächelte und verbeugte sich, als wolle er mich ermutigen, hindurchzugehen. »Bis Freitag also«, sagte er.
Ich trat wieder hinaus auf den Domplatz, verabschiedete mich und ging. Er blieb im Gartentor stehen.
Dann geschah etwas Seltsames. Die Ecke der Kathedrale war etwa fünfzig Meter entfernt, und ich war mir sicher, daß dort eine Gestalt stand, die im Zwielicht jedoch nur undeutlich zu erkennen war. Als ich auf sie zuging, verschwand sie um die Ecke. Ich hätte schwören können, daß es Austin war. Wie seltsam, daß er so herumgeschlichen und dann so hastig vor mir davongerannt war. Aber irgendwie paßte es zu seinem vorherigen Verhalten, überlegte ich, als ich über den Domplatz auf sein Haus zuging. Es war, als ob er mich einerseits bei sich haben wollte, andererseits aber auch wieder nicht.
Ich wußte, daß ich ohne weiteres ins Haus gelangen konnte, da Austin mir ja gesagt hatte, daß er die Tür niemals verschloß. Und jetzt, als ich über die seltsame Bemerkung nachdachte, die er am Morgen zu diesem Thema gemacht hatte, erriet ich plötzlich, wie er sie gemeint hatte. Der Grund, warum er die Schlüssel versteckte – denn er hatte im Plural gesprochen –, obwohl die Haustür unversperrt war, lag darin, daß einer davon der Schlüssel zu einem
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