Die schwarze Kathedrale
kennengelernt.«
»Wie kam denn das zustande?« fragte er höflich. »Bei Dr. Sisterson.«
»Sisterson ist ein Narr, aber er ist harmlos.«
»Mrs. Locard war reizend. Und sie ist für Sistersons Kinder wie eine zweite Mutter.«
»Über sie kann niemand etwas Böses sagen«, meinte Austin fast mit Bedauern. »Bloß, daß sie die Finger von keinem Kind lassen kann. Sie hatte selbst eines, aber das ist als Baby gestorben, und hinterher hat sich herausgestellt, daß sie keine weiteren Kinder mehr kriegen kann.«
»Ach, wie traurig!« rief ich aus. »So eine freundliche, mütterliche Frau. Und so schön. Wirklich sehr …«
»Wieso warst du zu so später Stunde dort eingeladen?«
»Ich kam mit Dr. Sisterson ins Gespräch.«
»Auf dem Domplatz? Das muß ganz schön kalt gewesen sein. Was für ein Gesprächsthema hat euch beide da draußen denn so warm gehalten?«
»Es war nicht auf dem Domplatz. Auf dem Rückweg vom Abendessen im ›Dolphin‹ sah ich Licht in der Kathedrale und ging hinein, und er war auch dort.«
»Unmöglich. Die Kirche wird doch schon Stunden vorher abgesperrt.«
»Nein, die Männer arbeiten sehr lange.«
»Ja, um die Orgel bis Freitag fertigzukriegen. Aber sie hören eigentlich immer spätestens um neun Uhr auf.«
»Es ist etwas passiert, weswegen sie die ganze Nacht durcharbeiten müssen. Das war auch der Grund, warum Dr. Sisterson dort war.«
»Was redest du da?« fragte er mit plötzlichem Interesse.
»Diese unfähigen Narren, die sich an der Kathedrale zu schaffen machen, haben einen ernsten Schaden angerichtet, genau wie ich es befürchtet hatte. In der Wand neben dem Querschiff ist ein Riß entstanden, und außerdem stinkt es ganz fürchterlich.«
Er zog sich in seinem Sessel hoch, setzte sich normal hin und starrte mich erschrocken an. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es ist möglich, daß eine der Säulen sich ein bißchen gesenkt hat. Wenn die Kathedrale auf sumpfigem Untergrund auf Holzpfählen erbaut worden ist, könnte es sein, daß dort unten Sumpfgas eingeschlossen war, das nun frei wird.«
»Wird das die Einweihung der Orgel verzögern?«
»Das weiß ich nicht.«
»Hast du dich denn nicht erkundigt?«
»Nein«, antwortete ich bestürzt. »Ist das denn so wichtig?«
Er schüttelte bedächtig den Kopf.
In diesem Augenblick schlug die große Kirchturmuhr die Stunde.
»Ein Uhr«, murmelte Austin. »Du solltest längst im Bett sein.« Und dann, wie um seine Bemerkung zu korrigieren, fügte er noch hinzu: »Ich hindere dich an deinem Schlaf.«
»Du hast recht«, erwiderte ich. »Ich muß morgen sehr früh in der Bibliothek sein. Ich will versuchen, aus dem Haus zu schleichen, ohne dich zu wecken.«
»Nein, mach dir deshalb keine Sorgen«, sagte er geistesabwesend. »Ich habe morgen viel zu tun. Ich werde ebenso früh aufstehen wie du. Vielleicht sogar noch früher.«
Wir gaben uns die Hand und trennten uns. Eine Viertelstunde später lag ich mit meinem geöffneten Buch im Bett. Ich hörte, wie Austin in seinem Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes hin und her ging, denn ich fürchtete, daß er wieder einen Alptraum haben könnte, und hatte deshalb die Tür offengelassen.
Obwohl meine Augen über den Text glitten, nahm ich nichts auf. Als ich darüber nachdachte, wie irritiert Austin auf meine Neugier bezüglich seiner Angelegenheiten reagiert hatte, fiel mir auf, daß er mir praktisch überhaupt keine Fragen über mich selbst gestellt hatte. Zuerst hatte ich gedacht, das läge an seinem Taktgefühl und seiner Sorge, mich damit womöglich zu verletzen, aber jetzt wurde mir klar, daß er sich einfach nicht für mich interessierte. Als wir beide jung gewesen waren, war mir nie aufgefallen, wie ausschließlich er mit sich selbst beschäftigt war, vielleicht, weil ich ebenso auf mich selbst konzentriert war wie er. Aber mit zunehmendem Alter hatte ich andere Menschen interessanter gefunden als meine eigene Person.
Und doch, fiel mir plötzlich ein, war er mir gefolgt, als ich zum neuen Dekanat gegangen war, um die Inschrift zu lesen. Interessierte es ihn also doch, was ich tat?
Zwischen Mittwoch und Donnerstag
Es war fast zwei Uhr, als ich dann endlich die Kerze ausblies und zu schlafen versuchte. Ich befand mich noch in einem verwirrenden Land der Schatten und halb verstandener Traumbilder, als mich plötzlich ein Geräusch aus dem Treppenhaus in die Wirklichkeit zurückrief. Das alte Haus knarrte beständig, aber dieses Geräusch war schärfer und
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