Die schwarze Kathedrale
lauter gewesen. Ich lauschte angestrengt und hörte ein Tappen auf der Treppe. Dann noch einmal. Und noch einmal. Austin stieg die Treppe hinunter. Augenblicklich hatte ich das Bild meines Freundes vor Augen, wie er mit weitaufgerissenen Augen durch die Haustür ging, während sein Geist noch in der Welt der Träume verharrte. Ich stand auf, zog mir im Dunkeln ein paar Kleidungsstücke über und tastete mich zur Tür. Dann schlich ich leise die erste Treppe hinunter, weil ich mich erinnerte, daß es gefährlich sein konnte, einen Schlafwandler plötzlich zu wecken. Es war nichts zu hören als die alte Uhr, die laut auf dem Treppenabsatz unter mir tickte. Dann, gerade als ich den nächsten Treppenabsatz erreichte, hörte ich, daß die Haustür leise geöffnet und wieder geschlossen wurde. Die Hand auf dem Treppengeländer, hastete ich so eilig hinunter, wie es in der vollkommenen Finsternis möglich war. In der Halle angekommen, ertastete ich meinen Weg zu den Kleiderhaken und fand meinen Mantel. Noch im Anziehen öffnete ich vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Zum erstenmal seit Tagen wehte ein frischer Wind, und vereinzelte Schneeflocken fielen oder – besser gesagt – wirbelten durch die Luft. Der Nebel hatte sich aufgelöst, und ein blasser Mond schimmerte durch die Wolkenfetzen, in dessen fahlem Licht ich Austins Gestalt rasch um die Ecke des Querschiffes verschwinden sah.
Ich eilte hinter ihm her, und als ich selbst um die Ecke bog, sah ich ihn gerade noch in eine schmale Gasse zwischen der Ecke des Domplatzes und dem neuen Dekanat einbiegen. Ich folgte ihm so schnell und geräuschlos wie möglich. Ungewollt überfiel mich die Erinnerung, wie ich vor vielen Jahren in ähnlicher Weise jemandem gefolgt war.
Es hatte nicht den Anschein, als ob Austin schlafwandelte. Dazu bewegte er sich zu schnell und zu zielstrebig. Das Gäßchen war sehr verwinkelt, so daß ich ihn nicht mehr sehen konnte, obwohl er nur wenige Meter vor mir herging. Wenn er nicht schlafwandelte, dann war er auch nicht in Gefahr, und in diesem Fall hatte ich eigentlich auch nicht das Recht, ihm zu folgen. Aber waren seit meiner Ankunft nicht genügend seltsame Dinge geschehen, die mir Anlaß zu der Vermutung gaben, daß er ernsthaft unter Druck stand, und die meine Handlungsweise rechtfertigten, die sonst ehrenrührig gewesen wäre? Mein ethisches Dilemma wurde jedoch sehr schnell gegenstandslos: Als ich das Ende der Gasse erreichte, war Austin nicht mehr zu sehen. Das Gäßchen mündete in eine kurze Reihe kleiner Häuser, und er konnte sowohl in eines davon hineingegangen als auch in einer der Querstraßen verschwunden sein. Ich blieb stehen. Es war totenstill – als ob die ganze Stadt so ruhig atmete wie ein schlafendes Kind. Ich eilte weiter. Wenn er in eines der Häuser gegangen war, würde ich vielleicht ein Licht sehen oder Stimmen hören. Ich hastete die Häuserreihe entlang, sah und hörte jedoch nichts. Am Ende stieß ich auf eine andere Straße, die im rechten Winkel kreuzte, aber soweit ich bei der mangelnden Straßenbeleuchtung erkennen konnte, war sie in beiden Richtungen menschenleer. Austin war mir entwischt.
Aber ich hatte mich verirrt. Minutenlang wanderte ich bestürzt die stillen Straßen entlang. War ich hier entlanggegangen? War dies die Gasse, durch die ich gekommen war? In der Dunkelheit sah alles gleich aus, und es war möglich, daß ich ständig im Kreis herum lief. Die frische Nachtluft und der klare Himmel nach dem lähmenden Nebel der letzten Tage waren jedoch angenehm, und die rhythmische Bewegung meiner Beine schien mir eine passende Untermalung meiner sorgenvollen Gedanken. Wo konnte Austin zu dieser nächtlichen Stunde nur hingegangen sein? Was trieb er hier und mit wem? Und warum schien er so besorgt über das Problem in der Kathedrale zu sein?
Endlich stieß ich wieder auf das kleine Gäßchen, das mich zum Domplatz zurückführte. Die schwarze Kathedrale erhob sich drohend und beängstigend riesig vor mir und schimmerte im Mondlicht. Ich dachte daran, wie alles um sie herum zerfallen, zerstört und überbaut worden war, selbst die gewaltige Abtei, die sie einst umgeben hatte. Die Größe der Kathedrale verlieh dem Städtchen das Gepräge einer Hauptstadt, und ich dachte daran, daß es ja auch lange Zeit eine solche gewesen war – eines der großen Bildungszentren des mittelalterlichen Europa, zu dem Gelehrte und Studenten von so weit entfernten Orten wie Cordoba und Konstantinopel geströmt waren.
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