Die schwarze Kathedrale
Der Gedanke an die verlorenen Schätze der riesigen Bibliothek, die unter Heinrich VIII. in alle Winde zerstreut worden waren, und an die untergegangene Gemeinschaft asketischer Gelehrter erfüllte mich mit Trauer.
Unwillkürlich mußte ich an den ermordeten Domherrn Burgoyne denken und dann an den Tod des Dekans Freeth. Langsam schlenderte ich an den kalten Steinen entlang, in deren Schatten einst große Leidenschaften gebrannt hatten. Aus irgendeinem Grund ging ich an Austins Haus vorbei und umrundete noch einmal den Domplatz. Er lag in fast völliger Finsternis vor mir. Nur am Westende des Hauptschiffes flackerte noch eine trübe Öllampe, die eigentlich gegen Mitternacht hätte ausgebrannt sein müssen, und die nahe daran war, zu verlöschen.
Plötzlich erfaßte mich eine urtümliche Angst vor der Dunkelheit – die Angst, daß es das Böse gäbe und daß es nachts seine Herrschaft antrete. Ein Gesicht, ein grinsender Totenschädel, setzte sich in meiner Phantasie fest. Mir ging die Geschichte von Burgoyne nicht mehr aus dem Kopf. Als Historiker fühlte ich mich eigentlich verpflichtet, vollkommen rational zu denken und die Tatsache zu akzeptieren, daß die Vergangenheit unwiederbringlich vorbei ist; und doch ist mir durch meinen Beruf all der Schmerz und Schrecken, den die Verstorbenen erlitten haben, stets gegenwärtig, selbst auf den friedlichen Weiden und stillen Nebenstraßen Englands. Dadurch habe ich ständig das Gefühl, als müsse immer etwas zurückbleiben, wie auf einer fotografischen Platte, die ein zweites Mal belichtet worden ist. Woher sollen wir wissen, was nach dem Tod mit uns geschieht?
Ich hörte ein gedämpftes Klirren und überlegte, daß die Arbeiter möglicherweise immer noch in der Kathedrale tätig waren. Tatsächlich waren die Fenster schwach erleuchtet, und dahinter bewegten sich Schatten. Ich ging zurück zur Tür am Ende des südlichen Querschiffs und drückte dagegen. Als sie sich öffnete, schlüpfte ich leise hinein. Die großen Steinsäulen waren mit winzigen Tröpfchen bedeckt, als ob sie trotz der Kälte schwitzten. Das ganze Bauwerk schien zu atmen. Es war ein gigantisches Lebewesen. Ich hörte ein leises, blubberndes Geräusch, das in erschreckender Weise an eine menschliche Stimme erinnerte, die in Schmerz und Verzweiflung stöhnte, und meine Nackenhaare sträubten sich, obwohl ich wußte, daß es nur der Wind sein konnte.
Ganz leise ging ich auf den Chor zu, wo die Handwerker beschäftigt waren. Drei Männer waren an der Arbeit, und der alte Küster, Gazzard, stand mit dem Rücken zu mir dabei und sah ihnen zu.
Keiner von ihnen bemerkte, daß ich unter dem Vierungsturm stand. Plötzlich spürte ich, daß jemand mich beobachtete, und sah zur Orgelempore hinauf. Ich reagierte ohne nachzudenken.
Es war einer jener Augenblicke, in denen das Bewußtsein abschweift, Geist und Körper sich voneinander zu lösen scheinen und die Zeit stillzustehen scheint. Oder besser gesagt: Diesen Eindruck hat man später, denn solche Momente lassen sich nur im Rückblick erfassen. Es war wie in all den Fällen, in denen ich feststellte, daß ich mehrere Seiten mit scheinbarer Konzentration gelesen hatte und mich dennoch an kein einziges Wort mehr erinnern konnte. Bei diesen Gelegenheiten fragte ich mich dann oft, wo mein Geist wohl gewesen war, wenn nicht bei meinem Buch.
Und so war es auch jetzt. Als ich zur Orgelempore hinaufsah, wurde mir plötzlich klar, wo ich mich befand. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war und wie ich dorthin gelangt war, wo ich mich plötzlich wiederfand. Oberhalb des Geländers schimmerte ein heller Fleck in der Dunkelheit, und als ich genau hinsah, verdichtete er sich zu einem Gesicht, das mich anzustarren schien. Ein kaltes, weißes, leeres Gesicht mit blicklosen Augen wie aus Glas – und doch schienen sie bis in mein Innerstes zu dringen. Sie sahen durch meine Seele hindurch – oder durch meine nicht vorhandene Seele, denn dieser Blick schuf eine ebensolche Leere in mir. Es war das Gesicht eines Wesens, das nicht von dieser Welt war. Ich weiß nicht, wie lange wir einander anstarrten, oder besser gesagt, wie lange ich dieses Wesen anstarrte, denn ich bin mir nicht sicher, ob es mich wirklich sah. Das Gesicht verschwand, und ich kehrte schaudernd und in kaltem Schweiß gebadet in die Wirklichkeit zurück. Und erst in diesem Moment vermochte ich die Reihenfolge der Ereignisse zu rekonstruieren. Ich hatte eine Vermutung, wer es gewesen sein
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